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das literarische nachrichtenmagazin
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Verbündete Heinrich von Tiedemann: "Unter Herbstblüten" Von Susan Müller
Georg Werry sucht nach einem sehr bewegten Leben einen angemessenen Altersruhesitz. Als Diplomat ist er weit herumgekommen und seine eigene Geschichte birgt viele Höhepunkte der guten und auch weniger guten Art. So wird ihm unterstellt, am Tod seiner Frau nicht unschuldig zu sein, um den Weg frei zu haben für seine Geliebte. Das kostet Ansehen und Beruf. Im nordischen Helenenwald findet er diversen Anschluss und die Liebe. Der amerikanische Besitzer Baker übergibt die Geschäfte an seinen Sohn und der findet im Zivildienstleistenden Marc einen Verbündeten. Beide wollen „Leben in die Bude“ bringen, sind sie selbst ja noch jung an Jahren. Von Tiedemann wechselt zwischen ernsten und heiteren Episoden. Der Autor, selbst einst Diplomat, hat den Anspruch, das Zusammenleben zwischen Jung und Alt neue Dimensionen zu eröffnen. Er erfüllt ihn perfekt. Durch den Wechsel Vergangenheit, Gegenwart und einem Ausblick in die Zukunft bleibt der Leser gefragt, auch immer wieder mit umzudenken. "Unter Herbstblüten" ist ein gut gewählter Titel, denn hiermit ist keinesfalls nur eine Jahreszeit in der Natur gemeint, sondern auch das fortgeschrittene Lebensalter der erfahrenen, aber kregen Helenenwaldbewohner.
Heinrich von Tiedemann: "Unter Herbstblüten: Ein Roman" 284 Seiten, Euro 17,90 Books on Demand ISBN 978-3842328945
Lockerungsübung Russell H. Greenan: "In Boston?" Von Tobias Hofer
„In Boston“ ist kein vergessener Klassiker. Er ist Ende der sechziger Jahre erschienen, und da passte er genau in die Zeit. Greenan, Amerikaner mit dem Traditionstick, in Europa als Schriftstellertourist sein Werk zu verfassen (bei ihm war es Nizza), hat denselben Ton, den man heute immer noch bewundernswert locker findet. Greenan ist 1925 in New York geboren, und da lebt er heute, 12 Romane nach „In Boston?“, immer noch. Er hatte verschiedene Jobs, bis er das Geld in der Tasche hatte, um sich mit Frau und Kindern nach Europa einzuschiffen. Zurück kam er mit dem Buch „In Boston?“ in der Hand und damit als gemachter Schriftsteller. Bei allem Zeittypischen dieses Riesenerfolgs hat „In Boston?“ noch heute etwas sehr sehr Anziehendes: Die Sprache Greeanans ist ehrlich und eins mit den Figuren im Roman. Durch die Neuübersetzung (von 2007) ist das jetzt auch für Leser, die „1968“ als graue Vorzeit vor ihrer Zeit sehen, zu entdecken. Es lohnt sich! Die Hauptperson, ein Maler namens Alfred Omega, der heillos altmodisch malt, kann sich zurückversetzen in frühere Kulturepochen. Zum Beispiel zu den Medicis. Irgendwann entdeckt ein Kunsthändler diese Fähigkeit und kommt auf eine Idee, wie man daraus Kapital schlagen kann. Der arme Alfred allerdings muss sich auf seinen Reisen mit krimiverdächtigen Ereignissen herumschlagen. Greenan ist nicht sehr heikel, was seine Szenarien betrifft. Da macht er sich nicht verrückt, dass das alles passen muss, dass da alle Details histo-echt sein müssen. Er steht sich nie selbst im Weg, sein Buch kann man weiterlesen, keine Stolpersteine. Am Ende war es kurzweilig und eine Lockerungsübung, wie man sie immer mal wieder verdammt gut gebrauchen kann.
Russell H. Greenan: "In Boston?" 400 Seiten, Euro 9,90 Diogenes Verlag ISBN: 978-3257239683
Gewollt verkorkst Markus Dzebro: „Dorian“ Von Bettina Meinzinger
„Dorian“ ist eine Sammlung von Postkarten. Schreibmaschinengetippt landen sie im Briefkasten von Markus Dzebro. Poststempel: New York. Dzebros Roman tritt eine Assoziationskette im Hirn los: von William S. Burroughs' Schreibmaschine zu Bret Eatso Ellis' „American Psycho“. Der Protagonist, der nachnamslose Dorian, nennt seine Olympus Simplex, auf der er ein Jahr lang, oft aphorismenhafte Botschaften ausspeit, Sybil – Sybille, in der Mythologie eine Prophetin, eine Seherin, die in Rätseln spricht. Einer Erzählung nach wird ihr von Apoll ein 1000 Jahre währendes Leben versprochen. Allerdings vergisst sie, sich auch die ewige Jugend geben zu lassen und endet allein und zusammengeschrumpft, in einer von einer Höhlendecke hängenden Flasche lebend. Ihr einziger Wunsch ist es nun zu sterben. Oscar Wildes „Dorian Gray“ tauschte seine Seele gegen Jugend und Schönheit, auch er endet, wie Sybille, mit verblühtem runzeligen Antlitz, und Messer im Herzen, in seinem Dachboden. (Andere Querverweise führen zu Charles Bukowski, dem dirty old man oder zum „Immortal Game“, eine der bekanntesten Schachpartien überhaupt zwischen Adolf Anderssen und Lionel Kieseritzky - wer sucht, findet sicher noch mehr) Auch Dzebro erzählt die Geschichte eines Niedergangs. New York ist bei ihm die komprimierte Zusammenballung von allem Verkommenen. Die Zeitungsnachricht, die man besser nicht gelesen hätte, das Blut, das von der Zimmerdecke tropft. Die Moral ist abwesend. Die Seiten von Dzebros Roman atmen Sperma, Schnaps und abgestandenen Schweiß. Dorian zieht, wie zwei Jahrzehnte vor ihm Patrick Bateman, Obdachlose und Prostituierte mordend, durch die Stadt, tagsüber sitzt er im teurem Anzug im Büro mit Panoramablick, bevor er in einem billigem Hotelzimmer Abschied von sich und der Welt nimmt. Vielleicht findet das alles aber auch nur in Dorians Kopf statt. Bret Easton Ellis rechnete damals mit der Kälte und Glätte einer neoliberalen Gesellschaft ab, die in den dunklen Straßenschluchten der Wall Street ihre adäquate Heimstätte fand. Dzerbos Postkartennachrichten hinterlassen leider keinen bleibenden Eindruck. Sie wirken gewollt böse und verkorkst, das wirklich Kaputte, Rücksichtslose und Intensive geht ihnen allerdings ab. In seinem Vorwort zu Dorian Gray schreibt Oscar Wilde: „There is no such thing as a moral or an immoral book. Books are well written, or badly written. That is all.“ Warum also Dzerbo lesen, wenn man auch zu Burroughs, Ellis oder Bukowski greifen kann?
Dorian: Ein Scheitern in PostkartenBroschiert,172 S. Asphalt & Anders 2010 ISBN-13: 978-3941639041 EUR 12,90
„Jeder der wat is, der war vorher wat anderes.“ Plaschke Steven Uhly: „Mein Leben in Aspik“ Die Memoiren eines steinreichen netten inzestuösen bigamistischen und zeitweise obdachlosen Zuhälters Von Iris Kersten
Sind Sie sicher, dass Ihre Eltern Ihre Eltern und Ihre Geschwister wirklich nur Ihre Geschwister sind und nicht vielleicht gleichzeitig noch Onkel, Tanten oder Cousins beziehungsweise Cousinen? Nach diesem Buch werden Sie alles in Frage stellen. In seinem Debütroman „Mein Leben in Aspik“ überschreitet der Literaturwissenschaftler Steven Uhly alle Grenzen von Gesellschaftsnormen und Tabus. Er schafft einen grotesken Roman mit geballtem Chaos und unendlichen Übertreibungen über eine inzestuöse Familie. Und immer, wenn Sie meinen, schlimmer kann es nicht werden, lassen Sie es sich gesagt sein: „Doch, es geht noch schlimmer!“ Aber nach etwa hundert Seiten wird auch Sie nichts mehr überraschen. Manchmal bekommt man zwar das Gefühl, einen Knoten im Kopf zu haben, der kann jedoch bei nochmaligem Lesen wieder gelöst werden. Rasant und anscheinend ohne jemals Luft zu holen, schildert der Autor und Erzähler Steven Uhly auf der Suche nach der Wahrheit seiner Familiengeschichte einen Rückblick auf sein fiktives Leben, in dem die Vergangenheit die Gegenwart wieder einholt. Und dabei ist es so, als wenn der Autor versuchte, all das Absurde und Undenkbare, das vielleicht zehn Menschen im Leben widerfahren könnte in dem Leben einer einzigen Person unterzubringen. Und es gelingt ihm tatsächlich. Gekonnt und voller Ironie präsentiert er all diese zufälligen Verstrickungen so, dass es zumindest einem logischem Ablauf folgt. Um Glaubwürdigkeit geht es hier nicht mehr. Der Erzähler ist das Ergebnis von Dreharbeiten für einen Pornofilm, in dem seine Mutter und sein Vater die Hauptrollen spielten. Seine noch minderjährige Schwester Natascha, die beim Vater lebt, ist die Tochter seines Vaters und seiner Großmutter und folglich auch seine Tante. Sie wurde ebenfalls vor der Kamera gezeugt. Nachdem er nun auf der Suche nach der Wahrheit zu seinem Vater gefahren ist und dabei seine Halbschwester kennen gelernt hat, verliebt er sich in sie und schwängert sie (ihre Küsse lassen ihn Visionen aus der Vergangenheit sehen – viele davon sind wahr). Aber vielleicht ist es auch das Kind ihres gemeinsamen Vaters, da auch der ein Verhältnis mit Natascha hat. Bei einem Familienessen schwängert nun der Erzähler, der übrigens gewöhnlich bei zu viel unverkraftbaren Wahrheiten in Ohnmacht fällt, auf ungewöhnliche Art auch noch seine Großmutter (diese schiebt das Kind ihrem 30 Jahre jüngeren Freund unter) und die indische Freundin seines Vaters (der hatte es sowieso auf ihre Mutter abgesehen) und wird somit auf einen Schlag dreifacher Vater, heiratet aber nur die beiden jungen Frauen. Und so weiter und so weiter. Ereignis folgt auf Ereignis, so dass der steinreiche nette inzestuöse bigamistische und zeitweise obdachlose Zuhälter sich letztendlich mit Erfrierungen im Krankenhaus wiederfindet und als Steven Uhly ausgibt. Ständig gibt es neue inhaltliche Ent- und Verwicklungen. Angefangen in den 60er Jahren, endet der Roman im Heute. Wer es bis zum Schluss ausgehalten hat, den wundert es nicht: die inzestuösen Vorlieben scheinen an die Nachkommen vererbt worden zu sein. Sein schwuler Freund Matthias, ein Autor, benutzt bezeichnende Worte für seinen neuesten Text: „Es gehe […] um ein Wollen, das sich nicht Bahn brechen könne, weil die Erinnerung es an ein Ereignis gekettet habe, das sich wie eine zur Dichtung verdichtete Spirale um den als Linie gedachten Lebensweg des Trägers des Wollens […] rankte.“ Wunderbar! Hier hat der Autor (nicht der Erzähler) Steven Uhly seinen Roman selbst beschrieben, denn genau so liest er sich: eine zur Dichtung verdichtete Spirale....Matthias' These ist, dass der Mensch nicht einer sei, sondern auch alle, die vor ihm gelebt haben. Das könnte zumindest die Visionen des Erzählers erklären. Nachdem allen (Erzähler wie Leser) klar geworden ist, dass es hier nirgendwo um Liebe, sondern nur um das Begehren und den Sex an sich geht, bleibt letztendlich die eine, für Steven alles entscheidende Frage an seinen wirklichen Großvater, ein Nazi der schlimmsten Sorte (denn schließlich ist der Enkel ja all seine Vorfahren zusammen), die Frage, ob Opa Oma wirklich geliebt habe? Der Leser ahnt es schon: Natürlich nicht. Und so greift Steven Uhly, der Erzähler, zu dem einzigen Strohhalm, der ihm noch bleibt, um sich endlich von all den Täuschungen und Lügen zu befreien: zu Tinte und Papier. Doch noch zögert er, dass Memorandum der Nachwelt zu hinterlassen, denn erstens geht das Leben ja noch weiter und zweitens: vielleicht glaubt ihm ja niemand... Steven Uhlys Debüt „Mein Leben in Aspik“, von Kritikern hoch gelobt, ist dennoch – wie wohl jedes Buch – Geschmackssache. Wer diese Odyssee verkraftet, wird lachen aus vollem Hals, wer aber der Ironie des Lebens von Steven Uhly nicht gewachsen ist, schließt das Buch spätestens dann, wenn der Erzähler seine nach Urin riechende Großmutter unter dem Tisch sitzend per Cunnilingus bearbeitet, sie dabei durch ein handgemachtes Geschenk schwängert und ihm, dem Leser, das Lachen im Halse stecken bleibt.
Steven Uhly: „Mein Leben in Aspik“ Secession Verlag für Literatur 2010 264 Seiten, 20,95 Euro ISBN: 978-3905951004
Vincent E. Noel: wem wenig vergeben wird (darf fressen mein herz) Von Bettina Meinzinger
Die Welt in Vincent E. Noels Text „wem wenig vergeben wird (darf fressen mein herz)“ ist eine von Grund auf Verdorbene. Seine Figuren bewegen sich durch ein Szenario aus Gestank, Hässlichkeit und Farblosigkeit. Magie, Aberglaube und Antisemitismus bestimmen den Alltag der Menschen. Wir befinden uns im Istrien des 14. Jahrhunderts. Ein (fiktiver) Autor schreibt, mit Papier und Bleistift nachts an seinem Schreibtisch sitzend, an der Geschichte seiner Protagonisten. Unter anderen ein Bibliothekar, die Schwestern Julija und Isaweta und die an der Dekadenz und Leere ihres eigenen Daseins zugrunde gehende Patrizierin Agnes werden in eine durch Inzest, Mord und Pest vergiftete Existenz geworfen. Sie alle scheinen seltsam passiv ihrem Schicksal ausgeliefert zu sein, haben der Eintönigkeit und Schrecklichkeit des Lebens nichts entgegenzusetzen. Die Farbtupfer („ungezählte Mohnblüten in Rot und Grün“), die zu Anfang noch sporadisch aufblitzen, verschwinden langsam, was bleibt ist ein alles vereinnahmendes Grau. Nimmt man Noels Buch das erste Mal zur Hand, ahnt man eigentlich nichts Gutes. Was hat sich der Verlag nur bei dieser schrecklichen Covergestaltung in beige, grün und orange gedacht, fragt man sich. Blättert man um, erfährt man, dass es sich dabei um eine Zeichnung Vincent E. Noels (ist das eigentlich ein Künstlername oder heißt man in Brandenburg, wo der Autor geboren wurde, tatsächlich so?) mit dem Titel „la nature ne trait pas les femmes très démocratiques“ handelt. Fängt man dann an zu lesen, ist man aber doch überrascht von der oft schönen, irgendwie spröden lyrischen Sprache Noels, die den Leser behände von Seite zu Seite trägt, ohne je zu prätentiös zu werden. Die Bilder, die Noel mit Worten malt, sind jedenfalls denen vorzuziehen, die er mit Farbstift und Papier malt.
Vincent E. Noel: „wem wenig vergeben wird (darf fressen mein herz)" Wiesenburg 2010 99 S., Euro 12,00 ISBN 978-3942063319
Die Rezensentin ist Amerikanistin und lebt als Literaturkritikerin in Berlin.
Georg Bosold: "Griechische Sagengestalten", "Griechische Götter und Sagengestalten systematisch" Von Urs Nägeli
Auf Nützlichkeit hin konditionierte Schüler und Studenten werden zu armen, eindimensionalen Wasserträgern – ihr Maximalberuf. Alle anderen haben bessere Karten. Wer über den ganzen Hassel vergessen hat, wofür man sich mal interessieren kann: Griechische Sagen! Um dem ganzen einen richtigen Kick zu geben jenseits von schalem Schulgeschmack, dafür gibt es zwei Bücher, die sich echt lohnen. Das Mittel gegen Burn-out im Kopf. „Griechische Götter und Sagengestalten. Systematisch“ und „Griechische Sagengestalten“ von Georg Bosold beinhaltet eine Auflistung aller wichtigen Figuren, ihren Taten, ihrem Schicksal, in der Länge von Lexikoneinträgen. Man erholt sich zusehends, die Ideen kehren zurück, und man beginnt, sich in etwas ganz anderem auszukennen. Der Einzug der antiken Haudegen in das mitteleuropäische Leben der Gejagten bringt Impulse. Und das –nicht ganz nebenbei anzumerken - gut verständlich und sehr kompetent.
Georg Bosold: "Griechische Sagengestalten mit den Quellen bei Hesiod, Homer und Apollodor" Verlag weiterbilden 2007 160 S., Euro 9,90 ISBN 978-3939989004
Georg Bosold: "Griechische Götter und Sagengestalten systematisch" Verlag weiterbilden 2007 230 S., Euro 9,90 ISBN 978-3-939989103
Ulrich Schlotmann legt mit „Die Freuden der Jagd“ einem epochalen Textteppich vor Von Jule D. Körber
I. Wer hier die erste „klassische“ Literaturkritik zu Ulrich Schlotmanns „Die Freuden der Jagd“ erwartet, wird enttäuscht werden. Diese Aufgabe gleicht der Quadratur des Kreises.
II. Es ist Winter 2009, der Münchner Club Registratur hat einen DJ aus London eingeflogen, die VJs werfen weiße Texte in den schwarzen Raum, auf schwarze Wände, auf zu Housemusik tanzende Menschen, die weißen Buchstaben, die einzige Lichtquelle, es sind Gedichte, es sind Kurzprosafragmente, lesbar auf tanzenden Körpern, die Schicht um Schicht vom Videojockey verwinkelt übereinander gelegt – projiziert – werden; schon nach der zweiten Schicht nicht mehr richtig lesbar, Text auf Text, im Beat, es wird heller und heller, bei der zehnten Lage ist es einen kurzen Augenblick taghell, und alles wird klar, nur einen Moment, um dann wieder von vorne zu beginnen. An solch einen Ort gehört „Die Freuden der Jagd“ von Ulrich Schlotmann, projiziert auf tanzende Körper, lesbar im Rausch des Moments.
III. Der Plot ist schlicht, wenn nicht gar klassisch.
Der Mann der in den Wald (hinein)geht hat seinen Ehegespons – [...] – die (nun) folgende/mehr oder weniger – unwahre Geschichte aufgetischt: er gehe – „(nur mal) eben – um die Ecke, (um) Zigaretten (zu) holen“ – lediglich – (einige) wenige - Minuten benötige er (dazu) – „dann: bin ich (wieder) zurück – [...] Er habe – eigenen Angaben zufolge – (schon) damals – „(schon) in der – (ganz) konkreten – Situation“ - geahnt/wo nicht (sogar): (definitiv) gewusst – „dass sie wusste, dass ich wusste, dass sie wusste – [...] mehr als hanebüchen /(komplett) an den Haaren herbeigezogenen Behauptung anlog“ – sei er doch – „zu dem – in Frage stehenden – Zeitpunkt“ – (schon) seit Jahren/&Jahrzehnten – „eigentlich: immer (schon)“ – ein – (nahezu) fanatischer – Nichtraucher – [...] Doch sei ihm – „auf die Schnelle“ – (einfach) nichts Besseres eingefallen. Es habe ja (dann) auch noch prima geklappt – „im Endeffekt.“
Ein Mann geht in den Wald, verlässt das bürgerliche Leben und flüchtet vor der für ihn überkomplexen Welt und
(...) erkennt in dem Spiegel eines Waldsees sich (selbst), sein Gesicht, wie es – „(tief) über den Weiher gebeugt“ – in diesen (hinein)blickt – und: (scheinbar) bis auf den Grund sieht.“
Der Weg im und durch den Wald wird eine Odyssee. Er trifft auf fundamentalistische Wahrheiten, mythische Gefahren und vor allem auf die Abgründe seiner eigener Seele. Schnell erscheint ihm die Welt im Wald noch viel fragmentierter und zer/ver/störender als jene, vor der er geflüchtet ist.
IV. Es ist 1999, als der Film „Blair Witch Projekt“ in die Kinos kommt. Drei Studenten gehen in den Wald, mit Handkamera „bewaffnet“, auf der Suche nach der Hexe von Blair. Sie verirren sich und begegnen nicht beweisbarem Horror, die Handkamera filmt die Jagd der Gejagten aus Protagonisten-Perspektive, die Regie fingiert authentisches Material. Würde „Die Freuden der Jagd“ für Hollywood verfilmt werden, es sollten die Regisseure vom „Blair Witch Projekt“, Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, gefragt werden, ob sie das übernehmen würden.
V. Es ist Sommer 2001 als Ulrich Schlotmann mit ersten Fragmenten von „Die Freunden der Jagd“ in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Literaturpreis antritt – und die Jury spaltet in harsche Ablehner und begeisterte Fürsprecher. Mehr als 10 Jahre dauert die Fertigstellung seines 1096 Seiten schweren Opus Magnus, das mehr Textkörper, mehr Wortteppich ist als Prosawerk.
VI. 1997 erscheint Katharina Francks Album „Hunger“, fünf Jahre später „Zeitlupenkino“. Ein sprachlicher Singsang, mal rennend gesprochen, mal zögerlich geflüstert, auf den Beat, gegen den Beat, aus „form follows function“ wird bei Katharina Franck „sound & beat follows words & content“. Das geht Hand in Hand, Katharina Franck macht Popsoundtextgebilde, die wohl ohne ihren Beat nicht mal ansatzweise solch eine Eindringlichkeit entwickeln würden. Wollte man nun versuchen, Katharina Francks Texte als gedruckte Prosa in der selben Vielschichtigkeit wie die „Songs“ lesbar zu machen, so würde man wohl die „Taktik“ von Schlotmann anwenden; sein Sound und sein Beat sind Interpunktionen, sind Unterstreichungen, sind Klammern, sind Kursivsetzungen, sind Fettungen. Wie die Protagonistinnen aus Francks Soundtextgebilden rennt auch Schlotmanns Protagonist, dreht jedes Wort dreimal, untersucht es auf seine Bedeutung; jeder Satz wird mehrmals gesagt, wieder zurückgenommen, um mit einer noch stärkeren Betonung und noch stärkeren Zweifeln gleichzeitig wieder nach vorne zu preschen.
VII. Der Dramatiker und Regisseur René Pollesch wurde lange Zeit vom etablierten Publikum verkannt. Sein ästhetischer Ansatz, sein Umgang mit Text war für einen Großteil der Stadttheaterbesucher so ungewohnt, dass er nicht missverstanden wurde, nein, er wurde gar nicht verstanden. Inzwischen inszeniert er an fast allen großen Häusern, er hat eine Bresche geschlagen für das postdramatische Regietheater und gemeinsam mit anderen ein neues Verständnis für einen Bühnentext, jenseits des hermetischen Plots und diesseits der Verhandlungen von Themen und Topoi ohne festgeschriebene Handlung. Vor allem in seinen ersten Inszenierungen ging es darum, den Sprechvorgang körperlich zu machen. Er ließ seine Schauspieler die Texte so schnell sprechen, dass das Sprechen selbst eine körperliche Anstrengung wurde und die Bedeutung der Wörter dahinter teils verschwimmt und teils stärker in den Vordergrund tritt. Inszenierte man Schlotmanns „Die Freuden der Jagd“ auf einer Theaterbühne, so sollte René Pollesch Regie führen. Ähnlich wie Pollesch hangelt auch Schlotmann sich an existentiellen Topoi – Beispiele wären Frausein, Mannsein, Einsamkeit, das Tierische im Mensch, der gejagte Jäger – entlang mit Wortkaskaden, die jede Option der inhaltlichen Verhandlung abdecken. Der Lesevorgang nimmt aufgrund des Textsatzes einen hypnotisierenden Rausch an, ähnlich der Körperlichkeit des Textes bei Polleschs Schauspielern.
VIII. Urs Engeler Editor ist ein Ein-Mann-Verlag, dort, wo sich der Verleger Urs Engeler gerade befindet, hat auch der Verlag seinen Sitz. Das Programm ist kompromisslos sperrig und jenseits des Mainstreams – experimentelle Literatur, poetologisch-literaturwissenschaftliche Texte und Lyrik von Debütanten und Alteingesessenen treffen in schlichter Gestaltung aufeinander. Bücher, die sich der Verlag leisten kann, weil ein poesiebegeisterter schwäbischer Zahnarzt die Herstellungskosten übernimmt. Engeler kann es sich dank der Karies anderer Leute leisten, die Marktgesetze nicht zu beachten. Vieles spricht dafür, dass Schlotmanns „Die Freuden der Jagd“ nicht ausschließlich gedruckt zwischen Buchdeckel gehört; dass es den Weg dorthin überhaupt geschafft hat, ist Urs Engeler zu verdanken, denn an die Publikation solch eines verrätselten Textkolosses hätte sich wohl kaum ein anderer Verlag gewagt. Und vielleicht schafft der ambitionierte Verleger es zusammen mit seinem Autor darüber hinaus noch, andere Wege mit diesem Werk zu beschreiten.
Ulrich Schlotmann: "Die Freuden der Jagd" Urs Engeler Verlag 2009 1096 S., Euro 38,00 ISBN 978-3-938767-71-9
Sich verschlucken Gion Mathias Cavelty: Die Andouilette oder Etwas Ähnliches wie die göttliche Komödie Von Susan Müller
Als erstes gehört man gleich mal ganz nah zusammen. Der Held des Buches und der Leser haben keine Ahnung, was die Andouillette eigentlich ist. Seite 1 nimmt alle Illusion von Sinnlichkeit, die sich dahinter verbergen könnte: Es ist eine stinkende Wurst aus Schweinsinnereien. In Lyon stellt man sowas her. Und was anderes soll bei so einem Auftakt geschehen - als dass man sich dran verschluckt, als Leser und als Held. Und da gehen die Wege auseinander; der Held erliegt der Wurst. Er stirbt.
Das kann es ja nun nicht gewesen sein.
Also entweicht seine Seele und alles wäre gut. Nur die Seele, die ist
hässlich, sie ist eine Art Qualle mit Rüsselchen und primitiven Motörchen.
Gion Mathias Cavelty: "Die Andouillette oder Etwas Ähnliches wie die Göttliche Komödie" Echtzeit Verlag 2007 144 S., Euro 23,00.- ISBN 978-3905800265
Autor in schwierigem Alter Germar Grimsen: "Almatastr." Von Miriam Schneider
Im wahren Leben scheint Germar Grimsen schüchtern zu sein. Er lässt aus dem eigenen Buch lesen, Freund Sven Regener, kein Unbekannter, übernimmt das. Das wahre Leben hat mit Büchern nicht viel zu tun. In denen ist er nicht gerade schüchtern. Er nimmt den Mund ganz schön voll und glaubt mit Versessenheit an seine Originalität. Häuser, in denen nur noch ein Mensch in einem ganzen Stockwerk wohnt, sind im Deutschland der totgeschwiegenen Immobilienüberbewertung normal. Das weiß Grimsen vielleicht nicht. Das Schulternzucken jedenfalls, wenn seine Hauptfigur, der man immerhin durch ein ganzes Buch und in seine Gedankenwelt folgen soll, allein in einer Hochhausetage lebt, das Schulternzucken des Lesers hat Grimsen wohl nicht eingeplant. Die "Alamtastr." ist in Bremen, dort ist auch der Held, ein Anti-Held. Er ist eine innerlich zerrüttete Gestalt, hängt den ganzen Tag seinen miesen Gedanken über die bundesrepublikanische Welt nach. Wie er ist auch der Leser zurückgeworfen auf die Gedanken und damit auf das Bild, das sich der Autor über Originalität und Alltäglichkeit macht. Da ergreift nicht nur den Typ, des Überlegungsschnitzeln wir ausgesetzt sind, das Zittern. "Tibet und die baltischen Staaten find ich erbärmlich, Tibet aber erbärmlicher als die baltischen Staaten." Lesenswert daran soll die Umkehrung des common sense sein, was bedeutet, dass der Autor ein ganz kritisches Köpfchen bezüglich des common sense ist. Das mag in manche schlichte Gemüter berühren. Germar Grimsen, das sei zu seiner Entschuldigung angeführt, ist in einem schwierigen Alter. Man könnte auch sagen: In einem schmierigen Alter. Er hat gerade die fünfzig überschritten, dazu gehört er dem schwierigen Geschlecht an, und dann ist er auch noch Teil dieser unglücklichen Zwischengeneration, für die es nicht mehr zum 68-er-Sein reichte. Das alles zusammen führt zu gewissen Geschmacksunsicherheiten, und so gern Autoren der Grimsen-Spezies bei jungen Lesern etwas reißen wollen, so gräßlich liegen sie, unnötig früh gealtert, daneben. Eine solche grandiose Fehleinschätzung offenbart eine Unabhängigkeit von guten Sitten. Das in ein Buch zu packen: Alle Achtung.
Germar Grimsen:
"Almatastr."
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