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Rasanz

John Cheever: " Die Lichter von Bullet Park"

Von Lucas Kohlschreiber

 

Ganz in der Tradition der großen amerikanischen Erzähler! Da steht John Cheever, man möchte schon sagen: Er kann nicht anders. Sein Roman „Die Lichter von Bullet Park“ ist eine Entdeckung, das schon, aber -für manche vielleicht auch tröstlich- man hat viele Wiedererkennungseffekte und De-ja-vus.

Die Story ist angesetzt im doch eher thematisch ausgelutschten Mittelstandsamerika der fünfziger Jahre, Auto, Haus, Garten, Baseball-Korb, brave, überschaubare Familienkonstellation. Für jüngere Leser aus Deutschland: Siehe heute diese elenden Neubaugebiete. Cheever lässt seinen Ort -Bullet Park heißt er- im Umland von New York erstehen. Ordnung und „Nachbarschaft“ werden dort groß geschrieben.

Der Protagonist, der nach Bullet Park und in eines dieser schrecklichen Häuser zieht, wird bald dem Pfarrer vorgestellt. So gewinnt die Handlung an Fahrt, bis die sie feststellen, dass in Bullet Park nichts ist, wie es sein sollte. Es ist kein Horrorroman, aber vom Aufbau der Geschichten, von der Spannung und der Rasanz her von Fitzgerald bekannt - und tatsächlich ebenbürtig. Und irgendwann, so viel sei verraten, kommt es zum Showdown. Und alles wird wieder!

Wenn man sich für amerikanische Literatur interessiert, gehört dieser Roman definitiv zum Kanon, andererseits ist es nicht erstaunlich, dass man von dem Buch noch nichts gehört hatte (es ist eine späte Entdeckung), denn diesem Genre zwischen Erzählung und Krimi fehlt doch ein wenig die literarische Berechtigung. Als Sozialkritik so ein Buch zu verstehen, dafür liefert es zu wenig Stoff, als reiner Krimi - zu viel. So ist „Die Lichter von Bullet Park“ nicht zwingend, aber doch eine sehr, sehr mit Niveau unterhaltende Lektüre.

 

John Cheever:

Die Lichter von Bullet Park

Dumont Buchverlag 2011

254 Seiten, Euro 24,90

ISBN 978-3832180683

 

Hoch

 

 

Nina Maria Marewski gelingt es

Nina Maria Marewski: "Die Moldau im Schrank"

Von Anne Spitzner

 

Helena lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Frankfurt am Main. Sie ist glücklich, aber wie die meisten Menschen fragt sie sich hin und wieder, was wohl geschehen wäre, wenn sie an wichtigen Wendepunkten ihres Lebens eine andere Richtung eingeschlagen hätte. Doch anders als die meisten Menschen bekommt Helena die Antwort auf ihre Frage. Sie wechselt in eine Parallelwelt, in der sie keine Kinder bekommen, sich gegen ihren Mann entschieden und eine Laufbahn als Künstlerin eingeschlagen hat. Und sie erfährt Beunruhigendes über den Mann, in den ihr Parallel-Ich sich gerade zu verlieben beginnt...

Nina Maria Marewski liefert mit ihrem Debütroman „Die Moldau im Schrank“ einen metaphysischen Roman ab, in dem sich Surrealität, existenzialistische Fragen des menschlichen Lebens mit einer gehörigen Portion Spannung, einem Hauch von Romanze und nur einem geringen Maß an Antworten verbinden. Sie wirft die Frage auf, wie fatalistisch wir das Leben sehen und einen wie geringen Einfluss wir darauf haben. Helena mag mit ihrem Versuch, sich in das Leben der Parellel- Helena einzumischen, letztendlich nicht völlig scheitern, aber wie viel mehr sie damit kaputtmacht als ganz behält, kann niemand sagen. Und die letzte große Frage, das letzte große Versagen, die Hin- und Hergerissenheit zwischen beiden Welten, sie bleibt am Ende doch. Weil man sich bei den ganz wichtigen Dingen im Leben eben nur ein einziges Mal entscheiden kann.

Passend zum Thema verläuft der Erzählstrang in Marewskis Roman in vielen verschiedenen Einzelteilen. Nicht weniger als sechs unterschiedliche Erzählpersonen gibt es, auch wenn sie nicht alle durchgängig vorhanden sind, und man verdankt es nur den geschickten Kniffen der Autorin, dass man nicht den Überblick verliert. Beispielsweise erzählt die „ursprüngliche“ Helena ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive, während die Helena aus der Parellelwelt in der dritten Person beschrieben wird. Die Liebesgeschichten zwischen Helena und ihrem Mann, dem Fremden aus der Parellelwelt und einigen anderen Beteiligten sind beständig vorhanden, nehmen jedoch niemals überhand. Dies ist einer der Bestandteile, dem die Geschichte ihre beinahe unerträgliche Spannung verdankt.

Ein anderer ist die Tiefe, in die Marewski sich hinabbegibt. Sie kriecht den einzelnen Charakteren so unter die Haut, wie es Helena in der Parallelwelt tut, und der Leser folgt ihr, ob er will oder nicht. Er verfolgt Helenas Ängste um ihr frisch verliebtes Parallel-Ich, er folgt dem Fremden und erhält Einblick in seine Gedanken, sodass er am Ende dasteht und nicht weiß, was er glauben soll. Es ist schwer, seine Leser dazu zu bringen, dass sie selbst einen dutzendfachen Frauenmörder nicht restlos verdammen.

Nina Maria Marewski gelingt es. Und „Die Moldau im Schrank“ bleibt aufgeschlagen, bis man auch die letzte Seite ausgelesen hat.

 

Nina Maria Marewski:

Die Moldau im

Bilgerverlag 2011

496 Seiten, Euro 24,90

ISBN 978-3037620151

 

Hoch

 

 

Schlechtes Cover – Super Geschichten

Alexander Špatov : „Fußnotengeschichten“

Von Iris Kersten

 

Haben Sie sich schon mal durch ein Cover vom Buchkauf abschrecken lassen? Ich bestimmt. Also nur gut, dass ich in diesem Fall das Cover nicht kannte, als ich das Buch aus einer Liste mit Rezensionsvorschlägen ausgesucht habe. Ich hätte nie im Leben die Lust verspürt, dieses Buch zu öffnen, geschweige denn, es zu lesen. Nachdem es nun aber in meinem Briefkasten lag, habe ich folglich den Schutzumschlag entfernt und mich an die Lektüre gemacht.

Fantastisch!

Dieses Buch ist eine absolute Bereicherung – einfach, weil es Spaß macht. Zwanzig Kurzgeschichten, präsentiert in Fußnotenform: Der Ausgangspunkt ist jeweils ein Zitat (präsentiert wie eine Überschrift) mit einer Fußnote. Die Fußnotengeschichten dann folgen Seite für Seite einem Unterstrich (wie eine richtige Fußnote eben) aus realen, literarischen oder virtuellen Welten. Der bulgarische Autor Alexander Špatov besitzt die Gabe, aus einer Randbemerkung, einem Zitat, etwas völlig neues zu entwickeln: Stadtgeschichten aus dem Herzen Bulgariens, Alltagsbeobachtungen, wobei das Ende jedoch nie vorauszusehen ist. Špatovs Betrachtungen sind hierbei stets philosophischer Natur.

Seine Geschichten sind so heiter wie sie auch bissig sind, teilweise sogar grotesk wie zum Beispiel die erste Erzählung über die Entstehung des Universums; für welches ein gefräßiges Schweinchen verantwortlich ist, da es so gierig war, dass ganze transkosmische Futter aufzufressen, so dass nur noch die Leere übrig blieb. Also fraß das Schweinchen die Leere (die übrigens niemals zur Neige geht) „und so kam es dementsprechend zur Erweiterung des Raumes und genau aus diesem Grund begann das Universum zu wachsen.“

Die Erzählungen sind aus der Perspektive eines von außen beobachtenden Autors heraus geschrieben, mit dessen stetigen Kommentaren wie zum Beispiel „es war wirklich nicht zu beschreiben, wie unser Mann jede einzelne Minute unter der brütenden Sonne durchlitt (genau deshalb werden wir es auch gar nicht erst versuchen).“ oder „!!!!!!!!!!!! (Ich bring die Ausrufezeichen hier auf einem Haufen, Sie können sie ja dann oben einfügen, wie Sie es für richtig halten.)“.  Die Sprache ist schnörkellos, klar und meist umgangssprachlich mit viel Dialog.

Eine gelungene Art, die Ironie des Lebens darzustellen: Jede Erzählung endet mit einer Überraschung, der Leser erfährt ein kleines Detail, welches die Geschichte in ein völlig anders Licht rückt. Hier als Beispiel Fußnote Nummer (3) zu „dem Grußwort des Rektors an die Studienanfänger der Medizinischen Akademie“: Ein Patient besteht darauf sein Blut zu spenden, obwohl er vor zwei Monaten (und tatsächlich schon seit zehn Jahren alle zwei Monate) Blut gespendet hat. Der Arzt ist dagegen, doch der Spender überzeugt ihn: „Und wenn dann plötzlich die Blutkonserven alle sind? Was machen sie da – etwa das Blut vom Boden aufwischen?“ Er selbst sieht sich als Universalspender (hat er doch Blutgruppe 0) und als Blutfabrik. Im letzten Satz erfahren wir dann, dass... Lesen sie selbst. Es lohnt sich!

PS. Nach Beendigung der Lektüre muss ich gestehen, der Bucheinband steht im Zusammenhang mit den Geschichten: Erstens sind die Erzählungen genau so absurd wie das Cover, zweitens sind die 18 mittleren praktisch von zwei Schweinchen-Geschichten eingerahmt. Die erste erwähnte ich oben, in der letzten übernimmt der New Yorker Mr. Martin bei Realfarmer.com die Verantwortung (das heißt Bezahlung) für die Aufzucht eines kleinen Ferkels in Bulgarien. Er tauft es George. E-Mails halten Mr. Martin über die Entwicklung seines Babys auf dem Laufenden. So lange bis er die letzten Worte liest: „GAME OVER“. Was ihn dazu veranlasst, auf dem schnellsten Weg einen Flug zu buchen, um nach George zu sehen...

Nichtsdestotrotz, ich bleibe bei meiner Meinung: Schlechtes Cover (oder sagen wir Geschmackssache) – super Geschichten.

 

Alexander Špatov:

„Fußnotengeschichten“

Wieser Verlag 2010

151 Seiten, 18,80 Euro

ISBN: 978-3851298758

 

Hoch

 

 

Es springen die Sätze hin und her

Katha Schulte: "Unwesen"

Von Anne Spitzner

 

„Ich lag und wartete. Ich hatte Zeit, nichts als Zeit. Ich wartete, dass etwas in den Kopf kam. In meinen Kopf.“

Denn der Kopf ist leer. Der Kopf der namenlosen Protagonistin, der Ich- Erzählerin in Katha Schultes Roman „Unwesen“ enthält nur noch wirre Gedanken und kein Rezept, kein Patent mehr, nicht einmal mehr eine Ahnung davon, wie man das Leben meistern kann. Dabei hat sie es doch bisher immer ganz gut auf die Reihe bekommen, hat vor sich hin gelebt, wollte nie ganz erwachsen werden, hat in den Tag hinein, von der Hand in den Mund und alles in allem zufriedenstellend gelebt – je nachdem natürlich, welche Maßstäbe man anlegt. Auf der anderen Seite hat sie nämlich auch ihr Studium geschmissen, ist Anfang Dreißig und hat keine Familie, arbeitet zum Zeitpunkt Null als Zoopädagogin in Hagenbecks Tierpark. Und dann ist auf einmal nichts mehr, wie es war. Die namenlose Frau erhält die vernichtende Diagnose Mykarditis im Endstadium, das Herz macht nicht mehr mit, das Herz spielt verrückt, die Gedanken tun es auch. Vom Anfang bis zum Ende geht man ihren Weg mit, den Weg durch das kranke Haus, das Krankenhaus, zwischendurch verwirrend klar die medizinischen Fakten, den Rest des Buches gefangen in den wirren Gedanken der Patientin, die eine Transplantation durchsteht, man erhält Einblick in die Beziehung zu ihrer Zwillingsschwester, die von beiden eigentlich immer die kränkliche war, man erfährt von Doktor Daun, dem Herzchirurgen, der die Protagonistin immer wieder in sich im Kreise drehende Diskussionen verwickelt. Wie die namenlose Herzpatientin taucht man ein in den eigenen, nicht mehr funktionierenden Körper, sucht das Herz, das nicht mehr das tut, was es soll, fühlt die Leere und das Wummern in der Brust, das aus dem Takt geraten ist. Man wartet auf das neue Herz, das da kommen soll, um die Leere zu füllen, und man steht mit gemischten Gefühlen daneben und weiß nicht, was man davon halten soll. Bis zur Kehrtwende und dem überraschenden Schlusspunkt nicht.

Dabei behält Katha Schulte ihren Stil von Anfang bis Ende bei. Auf dem Umschlag als realistisch- phantasmagorische Reflexion beschrieben, springen ihre Sätze hin und her wie die Gedanken im Kopf der Ich- Erzählerin und die wirren Argumente des Doktor Daun. Sie springen so sehr, dass sie manchmal am Ende des Satzes hintenüber fallen und keinen Sinn ergeben. Sie springen vor und zurück, und manchmal kennt man das Ende einer Seite schon an deren Anfang, oder man erinnert sich gegen Ende an einen Satz aus dem Prolog, der nun auf einmal Sinn ergibt. „Unwesen“ ist also definitiv ein Buch, das man am besten zwei Mal liest. Dann aber ist es ein sehr berührendes, aufwühlendes Buch, das einen vor allem durch die Schlusssequenz gar nicht kalt zu lassen vermag.

 

Katha Schulte:

"Unwesen"

200 Seiten, Euro 16,90

Hablizel 2010

ISBN: 978-3941978027

 

Hoch

 

 

Was ist das Glück? Das Erinnern oder das Vergessen?

Marica Bodrožić: "Das Gedächtnis der Libellen"

Von Iris Kersten

 

 „Ist nicht jede Rückschau eine Erfindung der Wahrheit?“

 

Eigentlich möchte man nur zitieren, so einzigartig und poetisch ist Marica Bodrožićs Art zu schreiben. Philosophisch und geheimnisvoll fängt sie den Leser in Nadeshdas Erinnerungen.

Nadeshda, geboren in Dalmatien, mit fünf Jahren von den Eltern verlassen und von ihrer Tante aufgezogen, hat ihren Beruf als Physikerin an den Nagel gehängt, um ihre Geschichte einer unmöglichen, aber intensiven Liebe aufzuschreiben, um so die Welt besser verstehen und aushalten zu können.

„Nadeshda“, das bedeutet „Hoffnung“, und die Erzählerin wählt sich diesen Namen selbst. „Meine eigene Geschichte kann sich hinter einem Namen wie Nadeshda beruhigen.“ Sie sucht nach einem Ort, an dem die anderen sie als sie selbst erkennen sollen, sie versucht die Wahrheit und ihr Leben zu finden. Zum Glück hat sie eine Vertraute: ihre Freundin und Landsmännin Arjeta (übrigens eine Abwandlung des Namens Nadeshda), die mit beiden Füßen auf dem Boden steht und Nadeshda immer wieder ins Gewissen redet.

Hauptsächlich verarbeitet Nadeshda ihre Beziehung zu Ilja, ihrer großen, aber gescheiterten Liebe. Währenddessen bekommt der Leser Häppchen für Häppchen die Enthüllungen über einen Libellen  und Kinder mordenden Vater, die, je weiter man sich dem Ende nähert, immer brutaler werden. Die Grenzen der Zeit verwischen, das Gesicht von Ilja verschmilzt mit dem des Vaters. Die Verbindung zwischen den zwei Männern besteht wohl darin, dass Nadeshda sie beide vergessen möchte, um die Liebe zu ihnen auslöschen zu können. Es ist dann Ilja, der ihr das Gedächtnis ihres Körpers zurück gibt und somit die Möglichkeit, das Gefängnis des Kopfes zu öffnen und die Erinnerungen an ihren Vater wiederkommen zu lassen, um sie danach wieder vergessen zu können. Auf der Suche nach der Wahrheit schreibt Nadeshda sich frei. Um endlich die Gegenwart, das Leben und das damit verbundene Glück wahrzunehmen, wird sie Ilja bald vergessen und mit diesem Vergessen vielleicht auch über die Kindheitserinnerungen mit ihrem Vater hinwegkommen.

Ein Buch über Hoffnungen, Sehnsüchte und das Schicksal, über die Ewigkeit und die Vergänglichkeit, dem Glück wie dem Unglück, vom Wünschen, das nicht hilft, und natürlich über die Liebe („Das Lieben ist eine Suche nach der ureigenen Unsterblichkeit. Das erklärt unser allgegenwärtiges Scheitern, aber es erklärt auch die große Kraft unserer Suche.“) und die Missverständnisse der Liebe. Marica Bodrožićs zweiter Roman (neben weiteren Erzähl- und Gedichtbänden) ist kein Roman im klassischen Sinne, sondern eher ein fragmentarischer Aufbau von Erinnerungen, die zu einem Puzzle zusammengefügt, ein Ganzes ergeben. Die Autorin schreibt eine Liebes-, Freundschafts- und Familiengeschichte (auch die Wirren des Jugoslawien-Krieges werden beleuchtet), die, spiralförmig erzählt und immer wieder durch sich selbst oder Arjeta kommentiert, Nadeshdas Selbstwerdung dient.

Was dem Buch an Handlung fehlt, wird durch die Sprache wieder aufgewogen. Mit der Verinnerlichung der Worte, der Poesie (das Lesen um der Sprache willen), wird der Leser in den höchsten der Genüsse schwelgen können.

 

Marica Bodrožić: "Das Gedächtnis der Libellen"  

Luchterhand Literaturverlag 2010

256 Seiten,

19, 99  Euro

ISBN: 978-3630873343

 

Hoch

 

 

Mehr Murp für Deutschland!

Oliver Uschmann bringt im vierten Teil der Hui-Reihe „Murp! Hartmut und ich verzetteln sich“ bringt seine Protagonisten in arge gesellschaftliche Bedrängnis

Von Jule D. Körber

 

Die Deutschen leben in einer Diktatur - und das freiwillig. Im vierten Teil von Uschmanns "Hartmut-und-ich" Romanen ist diese Diktatur aber wenig staats(ge)tragen(d) - wie dann im fünften Teil, soviel sei an dieser Stelle schon verraten - sondern gesellschaftsverursacht.
Die Band Wir sind Helden textete schon im Jahr 2003 - also zwei Jahre vor dem ersten Hui-Roman - passend:

 

"... Das ist das Land der begrenzten Unmöglichkeiten / Wir können Pferde ohne Beine rückwärts reiten / Wir können alles was zu eng ist mit dem Schlagbohrer weiten / können glücklich sein und trotzdem Konzerne leiten.
Wir können alles schaffen genau wie die toll dressierten Affen, wir müssen nur wollen (...) Aber wenn ich könnte wie ich wollte würd ich gar nichts wollen / ich weiß aber, dass alle etwas wollen solln ..."

 

Fünf Jahre später klingt das selbst in der Popmusik noch wesentlich pessimistischer, wie der Song "Wie wir zu leben haben", den Oliver Uschmann gemeinsam mit der Band Bosse extra zum Erscheinen des Buches gemacht hat.

 

"... bis ins Kleinste sagt ihr zu uns, wie wir zu leben haben. ... Seid euch sicher, was wir wollen, was wir wollen sollen. ... Überall seht ihr nur Sünde, lasst uns büßen für alles, was schmeckt. Denkt das Volk muss gesund, muss rein sein. ... Sei kein selbstständig denkender Spinner, nimm Vernunft an und gib uns schon Recht ..."

 

Der selbstständig denkende Spinner ist - es war nicht anders zu erwarten - Hartmut. Die "kulturpessimistische Trüffelsau", wie Popautor und Musiker Rocko Schamoni Hartmut bezeichnet hat, versucht sich in "Murp! Hartmut und ich verzetteln sich" als Individualanarchist on the road. Er und der Ich-Erzähler haben gemeinsam mit ihren Freundinnen ihr Haus aus Teil 3 der "Hui"-Reihe verlassen und sind nun mit der Autobahnraststätten-Wanderausstellung der Freundin des Ich-Erzählers, Katharina, unterwegs.

Provoziert von einem Managerentspannungsratgeber schreibt Hartmut heimlich an einem Buch zur Kunst des Murp und damit an einem Gegenentwurf zur effizienten Leistungsgesellschaft. "Schwimmen Sie nicht länger gegen oder mit dem Strom, klettern Sie aus dem Fluss!" könnte da das Motto lauten.
Zu den einzelnen Kapiteln seines Buches im Buch wird Hartmut durch die Begegnungen und Ereignisse während des Roadtrips inspiriert. Und wieder ist Uschmann da bei der Hyperrealität angekommen: Seine Figuren sind echter als die Realität. Sei es der mit Stasimethoden vorgehende GEZ-Mann Herr Twitter oder auch die 24-Stunden Schule, die versucht, ihren Schülern beizubringen, wie sie die Chinesen überholen.
Dazu kommt jede Menge Medienkritik und Schelte für Reality-Soaps des Privatfernsehens, aber auch der Schlankheits- und Gesundheitswahn kriegt sein Fett weg. Und es tauchen jede Menge Promizitate auf, die wohl auf einen überhöhten V.I.P.-Wahn in Deutschland hinweisen sollen.

Das, was Hartmut und Uschmann da zerfleddern, sind altbekannte deutsche Spießbürgerlichkeiten, sich darüber aufzuregen ist leicht. Und auch wenn es manchmal ein wenig zu sehr ausgewalzt wird, hat Uschmann in "Murp" mit dem Buch in der Buch-Idee die richtige Form dafür gefunden. Allerdings ist der vierte Teil längst nicht so originär wie das, was davor kam. Und so ist jedem Uschmann-Fan zu raten, Teil 5 gleich hinterher zu lesen, denn dieser Teil ist definitiv der beste der ganzen Reihe. 

 

Oliver Uschmann: Murp! Hartmut und ich verzetteln sich

Scherz Verlag 2008

448 Seiten, 13,90 Euro

ISBN 978-3502110507

 

Hoch

 

 

Schicksalsstadt

Jiri Kratochvil: "Brünner Erzählungen"

Von Miriam Schneider

 

Kratochvil?

Ja!

Er ist eine der großen Stimmen in der europäischen Literatur unserer Zeit, aber weil er nun mal Prosaist ist und nicht Schreihals, ist es eine leise Stimme, mit der er zu den Zeitgenossen spricht.  

Seine Romane „Unsterbliche Geschichte“ und "Der traurige Gott" sind unvergessen für jeden, der über sie gestolpert ist. Ihre starken Bilder, beinahe abdriftenden Metaphern, seine Grotesken zum Schmunzeln und Stutzen.

Nun, endlich, gibt es einen Erzählband von ihm: „Brünner Erzählungen“. Es sind Prosaminiaturen, Kurzerzählunegn mit der Hauptperson Brünn (tschechisch: Brno),der Schicksalsstadt Kratochvils.

Sein Stil ist hier der Stil vor den großen Romanen, sein Weg dorthin aufgrund dieser Erzählungen genau nachvollziehbar. Es ist der Resonanzboden eines Schriftstellers, auf dem diese prägnanten Kurzstücke hervorklingen.

Für „Kratochviler“ ein Muss, für Einsteiger das Zweitbuch nach „Unsterbliche Geschichte“, und für Hoffnungsvolle der Gedanke, es könne mehr Kratochvil in Zukunft auf deutsch geben.,

 

Jiri Kratochvil: Brünner Erzählungen

Aus dem Tschechischen von Johanna Posset

Braumüller Verlag 2009

216 Seiten, 21,90 Euro

ISBN 978-3992000012

 

Hoch

 

 

Nächsten Sommer oder das Leben ist eine Wundertüte

Edgar Rai: "Nächsten Sommer"

Von Iris Kersten

 

Schon auf dem Klappentext steht es: „Was ist das Leben? Kleines Drama? Großes Kino?“ Und tatsächlich -  Edgar Rais neuestes Buch erzeugt Kino im Kopf.

Felix, 26, Asket und Mathematik-Genie ohne Schulabschluss, erbt von seinem Onkel ein Haus am Meer in Südfrankreich. Unter dem Motto „Ein neuer Tag, ein neues Leben“ macht er sich nun in einem klapprigen VW-Bus auf den Weg in die Provence. Mit von der Partie sind seine Freunde Marc, ein Freigeist und Musiker, und Bernhard, der eher Symmetrie und Ordnung schätzt. Auf einem Kasseler Parkplatz stößt durch einen Zufall Lilith dazu. Sie wurde gerade von ihrer Liebsten sitzen gelassen und wollte eigentlich zu ihrer Schwester nach Genf. Der stattet sie dann nur einen kurzen Besuch ab, um sich der Gruppe auf ihrer Fahrt in den Süden anzuschließen. In Genf treffen sie auch ihre langjährige Freundin Zoe. Aus Liebeskummer hat sie kurzerhand einen Flug gebucht, der sie wieder auf die Sonnenseite des Lebens bringen soll.

Fünf junge Menschen mit den unterschiedlichsten Charakteren, die alle eins gemeinsam haben: Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens wollen sie dem Alltag entfliehen und alle Zwänge hinter sich lassen.

Endlich in der Provence angekommen und voller Tatendrang, kommt es zu einem Drama. Sie ertrinken fast in einem steintrichterartigen See - fast. Mit Hilfe von Jürgen, einem penisgesteuerten Macho, entrinnen sie knapp dem Tod und gelangen nach Pui, einem kleinen Dorf in der Nähe. Hier lernen sie Jeanne, die Kellnerin des einzigen Cafés im Ort, kennen. Für Marc ist es Liebe auf den ersten Blick...

Durch ein dummes Missverständnis (sie wollten „nur“ die Lettern der Kinoanzeige umstecken) werden sie verdächtigt, den Bankautomaten neben dem Kino knacken zu wollen. Es kommt zu einer filmreifen Verfolgungsjagd mit der Polizei (Rai ist übrigens auch Drehbuchautor). Sie sind gezwungen, Lilith in Pui zurückzulassen. Dafür aber springt ihnen Jeanne sozusagen vor das Auto. Jahrelang von Jürgen betrogen, hat sie erkannt, dass es Besseres im Leben gibt. Sie steigt ein, und die Fahrt geht weiter. Noch hundertzwanzig Kilometer. Sitzplätze werden gewechselt, Gedanken ausgetauscht, Gewohnheiten verändert. Das Leben ist schön.

Am dritten Tag erreichen sie La Ciotat (Wohl eine Parabel auf das Leben, dass sie erst eine stinkige Industriestadt durchfahren müssen, bevor sie ihr Paradies finden). Sie sind am Ziel. Auf jeden Fall fast. In Onkel Hugos Haus erwartet sie die Vergangenheit: Felix' Vater. Er will das Haus.

Es bleibt Felix nur eine Möglichkeit, sein Erbe zu behalten: Schach. Worum Felix aber tatsächlich spielt, ist seine Freiheit. Die Freiheit, von seinem Vater, der ihn jahrelang verachtet und misshandelt hat, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Die Partie ist spannend, aber Rai enttäuscht uns nicht: Felix (wie sein Name schon sagt) gewinnt. Die Freunde ziehen ein und genießen das Leben in vollen Zügen. Veränderungen finden statt, Prinzipien werden gebrochen. Das Leben wird zum Traum. Aber nur, um von der Realität wieder eingeholt zu werden: Lilith taucht mit Jürgen auf, und Bernhard bekommt eine schlechte Nachricht von zu Hause. Es wird klar, dass zumindest ein Teil der Gruppe den Rückweg antreten muss.

 „Nächsten Sommer“ war für die Freunde jahrelang das Synonym für „passiert sowieso nie“. Durch die Wandlungen, die in den Personen vor sich gehen, verändern sich auch die Bedeutungen, so dass „Nächsten Sommer“ (als sie sich dann am fünften Tag wieder trennen und nur zwei zurück bleiben) das Versprechen wird, sich eben genau dann wiederzusehen: Nächsten Sommer im Haus von Felix. Happy End. Aber kein kitschiges Happy End, denn neben denen, die sich gefunden haben, gibt es auch die, die zwar zueinandergefunden haben, die aber trotzdem wieder auseinandergehen. Und einer geht zu einer Beerdigung – auch das gehört zum Leben.

Der Autor erzählt in fünf Tagen und einem Epilog aus der Sicht von Felix. Er kennt seine Charaktere genau. Man bekommt das Gefühl, mittendrin zu sitzen. Es ist ihre Sprache, die die Protagonisten lebendig werden lässt. Sie sind jung und dynamisch, gewitzt und genial, sorglos und voller (Vor)Freude, aber auch eifersüchtig und verständnislos, aufgeregt und ängstlich, hilflos und zu Tode betrübt... von allem ein bisschen... eben lebendig!  Und immer haben sie die Frage im Hinterkopf, „was man vom Leben wollen soll.“ Mitunter mutet es sogar philosophisch an: Die Diskussionen über die Suche nach dem Sinn und den Möglichkeiten des Lebens. Auch der Leser wird ihr nicht entkommen, dieser Sehnsucht nach Aufbruch und Freiheit.

Das Buch sprüht vor Charme und Witz. Edgar Rai, auch Dozent für Kreatives Schreiben, ist ein Meister der Metapher und des Vergleichs. Man kann den Rosmarin praktisch schmecken und das Meer förmlich riechen. Leider wirken die Bilder an manchen Stellen etwas übertrieben beziehungsweise an den Haaren herbeigezogen. Sieht man davon einmal ab, ist „Nächsten Sommer“ ein wahres Lesevergnügen, das Lust auf das Leben macht.

 

Edgar Rai:

„Nächsten Sommer“

Kiepenheuer Verlag 2010

236 Seiten, 16,95 Euro

ISBN 978-3378006966

 

Hoch

 

 

Immer mal fällt anderer Schnee

Erich Kästner: "Drei Männer im Schnee"

Von Julia Schneider

 

1927 erschien eine kleine Story von Erich Kästner, in einer Tageszeitung: Armer Mann gewinnt Preisausschreiben, Aufenthalt in edlem Hotel in Kitzbühel, das Personal macht sich lustig über seine Fehler, er wehrt sich, eine Schlägerei, Rückfahrt nach Hause, und schließlich der Selbstmord von ihm und seiner Frau. Was für ein Stoff! Also machte Kästner einen Roman draus. 1934 erschien „Drei Männer im Schnee“. Doch Kästner gehörte zu den Autoren, die bei der Bücherverbrennung im Feuer auf dem Berliner Bebelplatz landeten, und auch dieses völlig untiefes Romänchen durfte nicht mehr ausgeliefert werden.

Doch die Geschichte war zu lesbar. Verboten in Deutschland, wurde es im Ausland zu einem Riesenerfolg; auch deutsche Ausgaben erschienen in England und fanden zurück nach Deutschland. „Drei Männer im Schnee“ wurde einfach überall gemocht. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde das Buch mehrfach verfilmt (in Schweden, in den USA, in Frankreich, in der Tschechoslowakei). Im Deutschen Reich gab es eine Theaterversion, der beste Freund Erich Kästners hatte sie geschrieben.

„Drei Männer im Schnee“ überlebten also. 1954/55 wurde es in Deutschland verfilmt, mit enger Beteiligung Kästners. Er hatte den Roman schon bei seinem Entstehen versucht, ohne Anklänge an die politische Wirklichkeit gedeihen zu lassen (bis auf eine kurze Ansprache Hagedorns, die an Goebbels erinnern könnte). Es hatte ihm damals nicht genützt, nun aber zahlte es sich aus. Das Wirtschaftswunderland konnte befreit über die harmlose Geschichte lachen.

Aber wie soll man dieses Buch heute lesen? Es wirkt wie ein verzerrter Kästner, dem man nicht mehr zuhören möchte, nachdem seine Stimme so verloren hat im Vergleich zu den großen Kinderromanen. Was dort Komik und eigener Stil ist, ist hier Kitsch und nachgemachter Kästner. Er hat sich selbst karikiert und verrät damit viel zu viel über sich. Doch „Drei Männer im Schnee“ hat obendrein eine glitschige Zeitlosigkeit, so dass jede Generation sich das Buch wieder selbst erfinden kann. Wer es jetzt liest, mit diesem Wissen um die Gier, an der der Finanzkapitalismus erstickt, mit dem Wissen um die geldstromlinienhafte Käuflichkeit der Politik, mit dem Wissen, dass alle Schwächeren und Jüngeren das bank- und staatswirtschaftliche Kanonenfutter sind – damit liest sich „Drei Männer im Schnee“ wieder neu. Das Lachen und die Leichtigkeit sind weg. Die Leser, die gerade dem Kästner für Kinder entwachsen sind, sind der Habenichts Hagedorn und werden der Habenichts bleiben. Der Millionär Schulze hat eine Firma, die in Wirklichkeit von Wirtschaftspolitikern am Leben erhalten wird; keine Spur von unternehmerischem Geschick. Die reichen Erben verbarrikadieren sich in ihren Condominiums und ihren Hotels, und ihre Angst vor dem Zorn der Armen wächst. Würden sie sich damit begnügen, Schulze als armen Mann nur in eine unbeheizte Dachkammer zu stecken?

Man kann „Drei Männer im Schnee“ noch lesen. Man kann es für sich umdichten und umschreiben. Den Stoff wieder weiten. Kästner hatte den Sinn für die richtigen Geschichten. Das immerhin hat er bewiesen.

 

Erich Kästner:

"Drei Männer im Schnee"

dtv 2006

352 S., Euro 10,95

ISBN 978-3423252584

 

Hoch

 

 

Hin und her gerissen zwischen gestern und heute

Michel Butor: "Der Zeitplan"

Von Susan Müller

 

Der Franzose Jaques Revel arbeitet für ein Jahr in England. Schon seine Ankunft ist wirklich nicht normal, o nein, denn er irrt erstmal durch die Stadt, alle Häuser sehen für gleich aus, alle.
Wenn er in dem Export-Import-Unternehmen nicht so gefordert wäre, würde er sich als erstes nach einem neuen Zimmer umsehen, aber es schlaucht ihn die Arbeit zu sehr: Der Ablauf des Arbeitstages, der ständige Sprachwechsel, dieses dauernde Umdenken.
Ein perfekte Bündnis von Leser und Hauptfigur macht dieses Buch zu einem Erlebnis. Die Leser fühlen sich nämlich genauso hin- und hergerissen wie Revel. Nicht nur in der Gegenwart, auch im Geschehen zwischen gestern und heute. Revel ringt wie wir alle um Ein-, um Zuordnungen.

Revel verliert sich. Er fühlt sich beobachtet, die große Stadt macht ihn orientierungslos und lässt ihn dem Verfolgungswahn anheimfallen. Um all die Zeitabschnitte zu verknüpfen, braucht es Strukturen, sagt der Autor. Michel Butor, selbst. Revel schafft es nicht, diese Strukturen zu erkennen, die ihn dabei beobachten, müssen sie sich immer wieder neu erschaffen. Gelingt es? Der Titel "Der Zeitplan" suggeriert es; allein, es liegt beim Leser. Ein literarisches Hochleistungsbuch, für geübte Lebenskenner eine große Sache. 

 

Michel Butor:

"Der Zeitplan"

Aus dem Französischen von Helmut Scheffel

Matthes & Seitz 2009

421 S., Euro 26,90

ISBN 978-3882217421

 

Hoch

 

 

Er liebt die Paula

Werner J. Egli: "Heul doch den Mond an"

Von Lucas Kohlschreiber

 

Eine Reise von Kanada durch die USA bis nach Mexiko. Nichts Besonderes also.

Aber in "Heul doch den Mond an" schon. Werner J. Egli hat es in den siebziger Jahren geschrieben, es ist 1978 erstmals veröffentlicht worden. Der kleine Reiseroman steht in der Nachfolge der großen Beatnik-Road-Stories, mit ein paar feinen Unterschieden. Der Autor ist Europäer, er hat sein Buch dem Jungsein gewidmet, war jung und schrieb es für Junge. Das heißt: Das Leben ist das Abenteuer.

Jeder, der mit 20 durch die USA reist und gut erzählen kann, kann hinterher so ein Buch draus machen, meint man und wird deshalb auf eine ganz andere Art ins das Buch hineingezogen. Es ist Kumpanei, der Ich-Erzähler und ich. Durch Gefühle verbunden: Freiheit, Unbeschwertheit. Arme Schweine, das sind die anderen mit den Bewerbungsmappen. Wir haben kein Geld, aber diese Buch.

Ohne Zukunft leben, das ist aktuell wie nie. Vergesst alles, lebt, macht was ohne Sinn. Nur, weil heute alles auf Kosten reduziert wird, rechnen wir mal: Drei Jahre im VW-Bus bringen mehr als drei Jahre auf der Business School und kosten weniger.

Die Erlebnisse auf Eglis Reise sind zunächst klein und überschaubar, doch sie werden von Anfang an als das Abenteuer des Lebens ernstgenommen und so geschildert. Er ist kein Hippie, er ist mit seiner Freundin unterwegs, sie haben einen Wolfshund dabei. Er besucht seinen Bruder, er verdient zwischendurch ein bisschen Geld. Die roten Fäden: Die Liebe zur Paula, seiner Freundin, und der Hund, und der auch wegen der Liebe zur Paula. Es ist schön, auch das Schwierige ist schön. Ihre Angst. Die Fahrt. Das korrupte Mexiko. Das ist lesenswert. Heute noch.

Ich bin zwölf Jahre nach Eglis Buch genau seine Route gefahren. Landschaft - Wahnsinn. Aber es gab wirklich keine Hippiekolonien mehr, es war Tourismus. Die goldenen Zeiten, die die Paula und er erlebt haben, waren vorbei.

Alle ist heute knapper geworden. Man weiß mehr, man weiß, dass die Erde knappe Ressourcen hat. Was will man aus seinem Leben machen? Diese Frage muss jeder für sich beantworten, obwohl heute so getan wird, als hätten das andere für einen zu tun, während man einfach nur 18, 19, 20 werden und still sein soll. Doch was sind wirklich die eigenen Ziele?

Absturz entsteht aus Hoffnungslosigkeit. Die gibt es in "Heul doch den Mond an" kein Mal. Deswegen ruft es uns das Buch immer noch zu sich und in sich hinein. Es bringt Euch mehr, Zeit zu verschwenden, das ist das erste, was Ihr erreichen solltet. Wann man mit dem Studium angefangen habt, interessiert doch mit vierzig keinen mehr. Und kommt jetzt nicht mit Eurem Bausparvertrag. Dessen Kleingedrucktes zu lesen dauert länger als Eglis heißes Buch.

 

Werner J. Egli:

"Heul doch den Mond an"

Kyrene 2009

220 S., Euro 19,90

ISBN 978-3900009632
 

Hoch

 

 

Der mit dem Wohnmobil spricht

Reif Larsen: "Die Karte meiner Träume"

Von Julia Schneider

 

Wer sich mit amerikanischen Literatur auskennt, hat viele De-ja-vus, wenn er Reis Larsens "Die Karte meiner Träume" liest. Man hat das Gefühl, es ist ganz in der Tradition des harten Lebens und in der Melancholie des Westens der USA geschrieben, und da gibt es viele wirklich tolle Romane. Die Personen, die Tragik, alles ist schön bildlich, man kann sich das alles sehr gut vorstellen. Der Roman vermittelt das wohlige Gefühl, ganz nah in einem ganz anderen Leben zu sein. Dann könnte man nach einigen fünfzig Seiten sagen: So gut, so langweilig oder so gut, so schön.

Aber Reis Larsen schafft es doch, dem Ganzen eine eigenständige Note zu geben. Das Leben eines hochbegabten Jungen von einer Farm beschreibt er auf spezielle Weise: Seine Kindheit, sein anfangendes Jugendleben stellt er in Form von Aufzeichnungen kartographisch dar. Optisch ist was los im Buch. Doch behält Larsen dabei immer den Erzählrhythmus der klassischen Literatur des Westens. Dazu reingemixt: Ein etwas absurdes Abenteuer. Geheimgesellschaften, ein Wurmloch, das Buch weicht zunehmend von der Realität ab, ohne dass man den miesen Eindruck hätte, es wäre echter Nonsens und Fantasy. Die Unerklärlichkeiten sind nicht immer perfekt eingebettet, dann quält man sich etwas hindurch.

Aber das gut erdachte Ende deckt schnell das Mäntelchen des Vergessens darüber, macht auch das Quälende rückwirkend gut. "Die Karte meiner Träume" würde ich vermissen, würde ich das Buch nicht kennen. Das dicke Buch ist übrigens auch ein Einstieg, eine Einladung, um sich der echten, guten amerikanischen Erzähltradition zuzuwenden. (Jim Morrison, Thomas Wolfe (nicht Tom Wolfe) zum Beispiel)

 

Reif Larsen:

"Die Karte meiner Träume"

Fischer 2009

435 S., Euro 22,95

ISBN 978-3100448118

 

Hoch

 

 

Die Kunst der Erbsünde

Barbara Bongartz: "Perlensamt"

Von Jule D. Körber

 

Barbara Bongartz hat mit „Perlensamt“ einen vielschichtigen Roman zwischen Raubkunst-Krimi, Fräuleinprosa und Familienepos geschrieben.

Geschichte kann man nicht verbrennen und durch Feuer in Luft und Asche auflösen, als hätte es sie nie gegeben. Egal, wie viel als „Beweis“ geeignete Papiere die Flammen im Kamin Martin Saunders fressen, was in diesen stand, wurde gelesen und sie haben ihre Pfade längst gelegt, die Wegweiser sind aufgestellt; wenn die Figuren ihnen folgen, geraten sie tiefer ins Labyrinth, verheddern sich dort nicht nur in ihrer eigenen Geschichte. Irgendwo in der Mitte liegt die Lösung, der Ausgang aber ganz woanders.

Martin Saunders, der Ich-Erzähler aus Barbara Bongartz Roman „Perlensamt“, will aber nicht die Beweismaterialien seiner eigenen Vergangenheit verbrennen, nein, in den Flammen lodern am Anfangs des Romans, aber kurz vor Ende der Handlung, die Papiere, die mutmaßlich Auskunft geben über David Perlensamts Familiengeschichte.

Diesen lernt Saunders, selbst vaterloser Sohn einer nach Amerika geflüchteten Deutschen, durch einen Zufall in Berlin kennen, wo er als Provenienzforscher in einer Dependance eines amerikanischen Kunstauktionshauses arbeitet. Perlensamt übt eine unerklärliche Faszination auf ihn aus, sie werden etwas, was man, wäre Perlensamt ein anderer, Freunde nennen würde.

Doch wer ist David Perlensamt? Ist er der, der er vorgibt zu sein? Und wer gibt er überhaupt vor, zu sein? Und woher stammt die im 2. Weltkrieg verschollene Kunstsammlung im Haus seiner Eltern? Und warum präsentiert er sie das eine Mal - und sich selbst mit ihr als leidender „Nazi-Erbsünder“, der Raubkunst besitzt - und versteckt sie dann wieder? Und wer ist wirklich der Mörder sein Mutter? Was weiß er und wann lügt er? Weiß er selbst überhaupt, wer er ist? Um spannungsmindernde Spoiler zu vermeiden, nur Fragen an dieser Stelle.

Am Ende folgt Mona, die hübsche Kollegin Saunders, dem nahezu richtigem Pfad. Was allerdings Perlensamt (über sich selbst) wirklich weiß, bleibt bis zum Ende offen.

Barbara Bongartz hat ihren Figuren ein Labyrinth gebaut – und sie finden in diesem verschiedene Wege, die rausführen könnten und rennen doch immer wieder gegen Wände, benutzen Geheimtüren, stoßen und ziehen sich an wie Magnete an der verschiedenen oder gleichen Polen. Und wenn sie im Labyrinth aufeinander treffen, ist nie klar, wer gerade wen belügt und vor allem – wer sich selbst.

Unter amerikanischen Drehbuchautoren spricht man von einer „Tomato in the Mirror“, wenn der Protagonist glaubt, etwas Bestimmtes zu sein und dann feststellen muss, dass er etwas völlig anderes ist, und er selbst merkt es als letzter, während sein gesamtes Umfeld schon um ihn weiß. Doch ob Perlensamt tatsächlich solch eine dramaturgische Tomate ist, weiß er wohl selbst nicht. Und auch bei den anderen Figuren ist unklar, was sie beim Blick in den Spiegel sehen können – und wollen.

Herr über seine eigene Biografie ist keine der Figuren und so irren sie durchs Labyrinth wie Fräuleinprosacharaktere der frühen 90er, stehen neben sich und denken doch, sich zu kennen. Saunders zum Beispiel lässt, „wenn ich fürchte, die Verbindung zur Gegenwart zu verlieren ... den Fernseher im Arbeitszimmer laufen“ und ihm „fehlte ... die Übung, der Vergangenheit größeren Wert beizumessen als der Gegenwart.“

Ganz anders agiert da Perlensamt. „Was Perlensamt nach und nach und immer nur in kleinen Dosen von sich gab, war dann etwas ganz anderes, ... . Bezüge überall, voll von Schatten, über denen wieder Schatten lagen.“  Und auch Saunders verändert sich nach und nach unter dem immer größer werdenden Einfluss Perlensamts: „Seit ich Perlensamt kenne, habe ich den verdammten Eindruck, dass hinter jeder Sache noch eine andere steckt. ... Die Erinnerung täuscht. Sie ist gerade dann unzuverlässig, wenn sie gegen die Gegenwart antreten muss“.

Schicht um Schicht deckt Perlensamt ab, nur, damit Saunders da drunter ein noch größeres Rätsel entdeckt und manisch Hinweisen folgt, die wieder einen völlig anderen Weg weisen.

Das alles wird in Zeitsprüngen und mit einer teilweise hochpoetischen, dichten Sprache erzählt und erinnert, auch wenn der Ich-Erzähler leider teilweise zur übermäßigen, sich wiederholenden Selbsterklärung neigt, an große Filme wie „Zwielicht“, „Der talentierte Mr. Ripley“, „Fight Club“ oder „Charade“, im literarischen am ehesten an Schlinks "Vorleser".

Bongartz, die ihren Roman im ambitionierten Frankfurter Independentverlag weissbooks.w veröffentlicht hat, der 2009 zu Recht den Frankfurter Gründerpreis erhielt, kann sich mit großen Namen (wie eben Bernhard Schlink) mit ihrem Roman „Perlensamt“ messen. Ob sich ihre virtuose Sprache, die die „biografische“ Verlorenheit ihrer Figuren verdeutlicht, auf ein Drehbuch übertragen lässt, scheint jedoch fraglich.

 

Barbara Bongartz:

"Perlensamt"

Weissbooks 2009

320 S., Euro 19,80

ISBN 978-3-940888-43-3
 

Hoch

 

 

Zähes Wüstenklima

Daniel Goetsch: „Herz aus Sand“

Von Miriam Schneider

 

Schauplatz Westsahara. In einem UN-Camp müssen Menschen mitzeinander auskommen, die sehr untershcieldich sind. Die große Politik, die sie entansdt hat, lässt sie hier arbeiten, aber sie müssen auch hier leben. Es ist heiß. Man trinkt. Man nähert sich an. Man besorgt sich Dinge und Körper. Mittendrin Frank. Frank hat seine Erinnerungen, die er loswerden sollte. Bis einer, der alles in ihm wieder hochkommen lässt, ins Camp zieht. Frank leidet, er hatte doch auch einmal eine große Liebe, Frank hat weitergesucht. Und tut's mit aller gebotenen Oberflächlichkeit auch in "Herz aus Sand" 

 Das klingt sehr nach Neuem Deutschen Beziehungsroman, in dem -an welchem Schauplatz auch immer- nach Selbsterfüllung gesucht wird, zu der eine öde Partnersuche eben standardmäßig gehört. Hier ist es die Schweizer Variante - die Kleine Schweizer Variante, denn Daniel Goetsch, Jahrgang 1968, ist sich natürlich nicht zu schade, um in Berlin das Berliner Klischee vom Jungautor zu leben. Dass er diesen stereotypen Weg eingeschlagen hat, war vorhersehbar. In seinem Romandebut von 1999 hatte es die Hauptfigur aus dem Schweizer Provinznichts nach Zürich und damit in den bunten Taumel eines Metropolennichts geschafft. Und Goetsch auf den Radar der Schweizer Nachwuchsliteratur(förderung).  

Er ist auch Franzose. Sein Roman "Ben Kader" von 2006 handelt vom Algerienkrieg. Das Afrika-Thema hat also seine Wurzeln bei Goetsch, und sie sind tief. Auch in "Herz aus Sand" ist das Thema Afrika kein Zufall. Leider hat das die Kritik -wofür der Autor nichts kann- dazu verführt, das Buch als politischen Roman zu lesen und ihm nur dadurch einen Platz in der Sinnmaschinerie der Literatur zuzuweisen. Wer das Buch in die Hand nimmt und einfach liest, liest von Individuen ohne große Ideen. Soweit wohltuend.

Sprachlich gesehen wird Mühe verlangt: Es fällt anfangs schwer, in dieses Buch hineinzukommen. Zu sehr verschwimmen die Perspektiven, aus denen erzählt wird. In erster Person berichtet Frank aus dem Lager in der Wüste, und aus dritter Person erfahren wir von Franks Vergangenheit in Deutschland. Häufige Perspektivwechsel tragen zur Verwirrung bei. Die Erzählweise ist gelungen dem zähen Wüstenklima angepasst, und besonders gegen Ende verschwimmen die Erzählstränge. Wir werden also auf Daniel Goetschs Werdegang auch weiterhin hoffnungsvoll blicken.  

 

Daniel Goetsch:

"Herz aus Sand"

Bilgerverlag 2009

285 S., Euro 24,00.-

ISBN 978-3037620038

 

Hoch

 

     
 

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