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Liebe eben!

Lauren Blakely: „One Dream“ – „One Love“ – „One Passion“: Die One-Reihe

Von Susan Müller

 

 

Lauren Blakely ist eine Autorin aus Kalifornien mit Hang zur Erotik – allerdings solcher, die in Handlungen verwoben ist und bei der die Figuren lebhafte Charaktere sind. Ihre „One“-Reihe, die derzeit in deutscher Übersetzung in Folge erscheint, dokumentiert dies – wenn ein solch trockener Ausdruck angesichts des durch und durch amerikanischen Settings erlaubt ist. Es knistert und kracht in diesen Büchern nicht nur im Bett, sondern auch in jeder anderen Situation, und natürlich immer dann, wenn es gerade gar nicht passen will, Und es passt nie im Leben des modernen Arbeitsmenschen – geschieht aber doch!

Leich in Band 1, „One dream“ ist alles dabei, was eine spannende Lektüre benötigt: Es geht um Abby, sie ist das Kindermädchen von Hayden. Leider ist sie heimlich in deren Vater verliebt. Natürlich lässt sie sich nichts anmerken, denn dieser Job ist ihr wichtig, und es ist hier in New York ihre Familie. Abby ist nicht nur Kindermädchen, sondern gibt auch Sprachunterricht, denn sie ist unheimlich begabt. Simon als ihr Boss hegt aber dieselben Gefühle, nur hadert er ebenso wie Abby mit deren Offenbarung. Schließlich handelt es sich zwischen den beiden um ein Arbeitsverhältnis. Weder Abby noch Simon können ihren Freunden allerdings etwas vormachen und erhalten, wie sollte es anders sein, ultimative und gute Tipps. Doch die Liebe folgt keinen Ratschlägen, sie ist einfach da und nimmt beide so in Beschlag, dass ihr Verhältnis auf die körperliche Ebene und die der Gefühle gehoben wird.

Um im Französischen besser verhandeln zu können, lehrt ihn Abby die Sprache und begleitet ihn zu Geschäftsessen. Sein Freund Gabriel findet sie eine gute Partie. Als klar wird, dass sie auch Hayden davon erzählen müssen, denn schließlich hat deren Mutter Abby zufällig schon halb nackt gesehen, möchte Abby den Job als Nanny aufgeben. Sie will sich nicht von ihrem Freund bezahlen lassen. Hierfür hat Simon den perfekten Plan - er macht ihr einen Heiratsantrag.

Um die eigentliche Handlung herum spielt Lauren Blakely sehr ausführlich mit den Facetten von Anziehungskraft und körperlicher Liebe. Sex spielt eine große Rolle, des Lesers Phantasie wird angeregt. Dieses Buch ist daher für diejenigen geeignet, die anschauliche Beschreibungen im Liebesspiel gut aushalten und sich daran erfreuen können.

Im nächsten Band, „One love“, nimmt die Autorin den Faden wieder auf und beleuchtet das Leben von Simons Freund und Geschäftspartner Gabriel, der unverhofft seine erste und einzige große Liebe Penelope wiedertrifft. Penelope und ihre Freundinnen werden im ersten Roman bereits erwähnt, sie ist Geschäftsführerin im Tierheim. Mit ihren Freundinnen Nicole und Delaney verbringt sie viel Zeit und sie wissen alles voneinander. Penelope plant ein Charite Event und benötigt einen Catering Service, dessen Chef sich als kein geringer als Gabriel entpuppt. Sofort weiß sie, wie sie sich damals gefühlt hat, als er nicht zur Verabredung kam und wie lange sie gelitten hat, nicht zu wissen, warum. Sie nennt sich jetzt Penny und ist nicht sicher, ob er sie erkennt, doch Gabriel glaubt es von der ersten Sekunde an zu wissen, wer sie ist. Sie lernen sich neu kennen, und die Erotik spielt die wesentlichste Rolle, um wieder miteinander zu beginnen.

Als Penny Gabriel endlich über ihre Person aufklärt und er ihr die Erklärung für damals liefert, weshalb er nicht erscheinen konnte, sind sie sich bereits wieder rettungslos verfallen. Es wird die Neuauflage Penelope - Gabriel geben, nicht zuletzt, weil neben dem Sex auch das Catering ein voller Erfolg wird und Gabriel merkt, dass er ziemlich eifersüchtig auf Männer in Pennys Umfeld ist. Sie gehört ihm. Für dieses Denken muss er sich nochmal ins Zeug legen, aber er schafft es, Penny von sich und seiner Veränderung zu überzeugen. Lauren Blakely zeigt sich auch hier als Erotik-Autorin, sie ist auch in diesem Fortsetzungsband körperbetont und offen und gönnt sich und den Lesern seitenlang Liebesspiele.

Band 3 ist denn auch gleich betitelt mit “One passion“. Abby und Penelope wissen wir aus den ersten beiden Bänden schon glücklich, aber dass auch Delaney unverhofft auf ihre alte Liebe trifft, greift die Autorin in diesem Buch auf. Beim Joggen mit ihren Freundinnen sieht sie sich plötzlich Tyler gegenüber, der seiner Nichte Jongliertricks beibringt. Sofort erinnert sie sich an seinen Ausspruch, mit dem er sie damals abserviert hat, er wisse nicht, wie er Uni und sie als seine Freundin jonglieren soll. Und nun hat er ein Kind, was er offenbar ziemlich schnell nach ihrer Trennung gezeugt haben muss, obwohl er ja eben keine Familie wollte. Sofort muss sie ihn im Internet googlen - er ist ein erfolgreicher Medienanwalt geworden, während sie selbst einen Spa betreibt und die Juristerei an den Nagel hing, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Sie erfährt aber auch, dass es nicht sein Kind, sondern seine Nichte ist, und es erstaunt sie einigermaßen, wie sehr sie das wiederum beruhigt, obwohl er ihr doch so egal ist.

Tyler hingegen steht dazu, dass ihm Delaney nicht mehr aus dem Kopf geht. Er befragt seinen Freund Simon und seinen Cousin, der auch Geschäftspartner ist um Rat. Beide lassen ihn wissen, er müsse sich schon sehr bemühen, um zu beweisen, dass es ihm jetzt ernst sei. Tylers Wesen lässt nur verrückte und manchmal unüberlegte Dinge zu, aber natürlich erinnern sich beide an den tollen Sex, den sie an den unterschiedlichsten Orten hatten und an ihre Gespräche auf Augenhöhe. Während Tyler sich nur vom Gerichtssaal abgewandt hat, ist ja Delaney einen komplett anderen Weg gegangen. Tyler gibt seine Gründe unumwunden zu, sie braucht noch, bis sie sich ihm anvertraut. Vertraut sind sie sich aber sofort in Küssen und Berührungen und später dem Sex.

Er will sie heiraten und überrennt sie mit dem Antrag. Er möchte sie nicht noch einmal verlieren. Liebe kommt in keinem der drei Bücher zu kurz, vor allen Dingen nicht die Beschreibungen der Art und Weise, wie man sich körperlich näherkommt und liebt. Insofern sind alle Augen auf Band 4 gerichtet. Es geht im besten Sinne bestimmt wieder zur Sache.

 

 

 

Lauren Blakely: „One Dream“ – „One Love“ – „One Passion“: Die One-Reihe

Aus dem Amerikanischen von Birgit Fischer

Knaur Verlag 2018ff.

Kindle Edition, 9,99.-

Ca. 350 Seiten pro Band

 

 

 

Hoch

 

 

 

Achterbahn

Jeff Bartsch: „Liebe vielleicht“

Von Susan Müller

 

Den Titel dieses Romans kann man bereits vielseitig interpretieren, indem man ihn jeweils mit anderer Betonung liest. Möglicherweise auch so: „Liebe – vielleicht?“ Auf diese Idee kommt der Leser allerdings eher zum Schluss, wenn er die Fakten kennt.

Vera und Stanley begegnen sich beim Buchstabierwettbewerb und zum ersten Mal in dessen Geschichte gibt es zwei Sieger. Sie schenken sich nämlich nichts. Immer wieder treffen sie aufeinander, und irgendwann kommen sie auf die mehr oder minder glorreiche Idee zu heiraten. Stanley will nämlich auf keine Eliteuniversität, sondern Kreuzworträtsel entwerfen. Leider kann er das seiner Mutter, mit der er in einem Hotel zum Selbstkostenpreis wohnt, nicht anvertrauen, und so verstrickt er sich in Lügen. In diese Lüge taucht Vera mit ein, denn was soll schon dabei sein, wenn sie als Ehepaar zum Studieren gehen.

Habe ich am Anfang der Kritik des Buchrückens nicht ganz folgen können, weil mir der Einstieg zur Spannung zu lange dauerte, änderte sich das nach dem ersten Drittel des Buches schlagartig. Die beiden können wirklich nicht mit, aber auch nicht ohne einander. Sie leben teilweise wie ein Ehepaar, sehen sich dann auch lange nicht. Bis Stanley sich zu nicht ganz legalen Dinge verleiten lässt, die eine längerfristige Trennung beider herbeiführt, denn Vera hält an ihrem Studium fest.

Eine Achterbahn der Gefühle nimmt den Leser mit, als wäre er mittendrin. Versteckte Botschaften in den Kreuzworträtseln, die mittlerweile in Zeitungen gedruckt werden, sollen den Aufenthaltsort des anderen verraten. Letztendlich gehen einige Jahre ins Land, bis beide merken, dass es ohne den anderen auf die Dauer wirklich nicht geht. Dass sie gemeinsame Interessen verbinden, die überwiegen. Eine schöne und lebensnahe Geschichte darüber, wie  sich zwei darüber klar werden, ob es „vielleicht Liebe“ ist, was sie verbindet und zueinander hinzieht.

 

Jeff Bartsch:

„Liebe vielleicht“

Bastei Lübbe, 352 Seiten, Euro 9,99

ISBN 978-3404173-84-6

 

 

Hoch

 

 

Eine rundum hervorragende Auswahl – und ein wunderschönes Buch

Emilie und Theodor Fontane: „Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles“

Von Barbara Müller

 

Theodor Fontane, der große deutsche Schriftsteller des bürgerlichen Realismus, dem wir so wunderbare Lesestunden mit „Effi Briest“ oder „Frau Jenny Treibel“ verdanken, war auch ein großartiger Briefeschreiber. In den Genuss dieser hohen Kunst kam auch seine Frau Emilie, und der Ehebriefwechsel enthält einige wahre Schmankerl.

Davon eine Ahnung können nun auch die „Normalleser“ bekommen. In einer kundigen, leserzugewandten und rundum hervorragenden Auswahl liegt ein Band mit Briefen von Theodor und Emilie Fontane vor. Chronologisch aufgebaut ist die durchdachte Einteilung von kurzen, die jeweilige Situation, in der die Briefe geschrieben wurden, erläuternden Überblicken durchzogen. Sie sind angenehm zu lesen und ideale Überleitungen zu den Briefen. Gotthard Erler, Kenner der Materie, hat sich diese Mühe gemacht und lädt damit zur Fontane-Lektüre ein.  

Die Briefe selber sprechen natürlich für sich – Fontanes spitzzüngige Beobachtungen sind mit Freude zu lesen. Dank der klugen Gliederung kommt nie Langeweile auf. Der Einblick in das Leben der beiden, in ihre Ehe, ihre Freuden und ihr Elend, das sie auch aneinander und an der Welt empfanden, ist gewinnbringend. Die Kapitelüberschriften wie „Das Psychogramm einer Ehe in einem heiteren Sommerbriefwechsel“, „Ein Jahr und zwei Katastrophen. Ehekrach und Kriegserfahrung“ oder „Es wird uns eine Sehnsucht im Herzen bleiben. Reisen nach Italien“  sprechen für sich. Dabei ist nichts geschönt worden. Zu Briefen in leichtem Plauderton kommen solche mit antisemitischen Ausreißern. Wozu ein solcher Band hätte verleiten können –alles in Rosarot zu tauchen-, es geschieht hier nicht. Es zeigt ein ganzes Fontane-Bild, das man sich hierdurch, auch ohne der ganz besessene Fontane-Fan zu sein, erschließen kann.   

Liegt hier schon inhaltlich ein absolut empfehlenswertes Buch vor, dessen Erscheinen wir wohl dem Fontane-Jahr 2019 (es jährt sich sein 200. Geburtstag) verdanken, muss noch ergänzt werden, wie gelungen Aufmachung und Gestaltung des Buches sind. In angenehmem Schrifttyp liest es sich leicht, liegt aber auch gut in der Hand. Die Umschlaggestaltung spricht für sich; Farbton, Oberfläche und Banderole – alles ein schöner Anblick. „Nice to have“ für alle, die sich auf Fontane-Bücher stürzen, und auch das ideale Geschenk für Menschen, denen man etwas Gutes tun will!

 

Emilie und Theodor Fontane:

„Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Eine Ehe in Briefen“

Gebunden, 320 Seiten, 18 Euro

Aufbau Verlag 2018

ISBN 978-3351037178

 

Von Barbara Müller ist zuletzt erschienen: „Kochen im Hause Fontane. Emilie Rouanet-Fontane und die Entdeckung der guten Zubereitung“

 

 

Hoch

 

 

Ein moralistisches Manifest

Markus Spieker „Mono – Die Lust auf Treue“

Von Iris Kersten

 

Monogamie? Markus Spieker macht Lust darauf. Locker, flockig im Journalistenstil (manchmal wirklich sehr witzig und pointiert – ein jeder wird sich irgendwo wiedererkennen) bringt uns der Autor einem anscheinend neuen Trend näher: Der Treue.

In seiner Einleitung nimmt Spieker dem Rezensenten die Arbeit ab und fasst selbst zusammen: „um Lust, Gefühle [und] Sehnsüchte geht es in diesem Buch vor allem.“ Es soll ein Buch sein „für Menschen, die sich echtes Gelingen in Leben und Liebe wünschen“ - sprich: für jedermann (denn wer tut das nicht?)

Ein ganz besonderes Bravo für die Fähigkeit, sich auch über sich selbst lustig machen zu können. Es ist nicht der Moralapostel der hier spricht (auch wenn es sich manchmal so anhört). Mono ist wirklich sehr flott zu lesen (auch wenn ich persönlich das Buch um ca. 50 Seiten gekürzt hätte). Dabei unterteilt der Autor sein Buch in zwei Hälften, die erste handelt davon, „warum wir sie [die Treue] brauchen und was uns gleichzeitig davon abhält, sie zu realisieren.“ In der zweiten Hälfte versucht er die Frage nach dem „Wie“ zu beantworten: „Wie genau funktioniert Treue?“

Spieker berichtet über die „3L“  (lebenslängliche Liebe), die Tugend, die Treue. Er gibt sogar eine Definition: „Treue ist die Fähigkeit zu moralischer Nachhaltigkeit.[...] Die Treue ist insofern nachhaltig, als sie die Liebe regenerierbar macht.“ Das hört sich doch sehr weise an.

Männer und Frauen werden unterschieden, genau wie der Mensch und das Tier, die Eifersucht wird abgehandelt, geschichtlich-literarische Betrachtungen fließen ein, Religionen und Erziehung werden nicht vergessen.

Spieker liefert Statistiken, berichtet aus Machokulturen, Pornographie und wie man aus der Liebe Kapital schlägt.

Auf die Frage nach dem „Wie“ verweist er auf das „Lernen, Wählen, Versprechen, Lieben, Kämpfen und Versagen, vergeben, neu versuchen (so die einzelnen Kapitelüberschriften). Hier besonders interessant: eine Anleitung zur Streitkultur und eine zum Zusammenbleiben (die „5 zu 1- Formel. Fünf Komplimente gleichen eine Kritik aus.“)

In einem Interview behauptet Spieker „ich glaube, ein solches Buch gibt es echt noch nicht, in dem in über 250 Seiten dieses Thema von allen Seiten durchgeackert wird – psychologisch, soziologisch und theologisch.“ Und damit hat er wohl recht. Spieker bringt Anekdoten aus dem eigenen und aus dem Leben anderer, zitiert die Bibel und Bücher aus der Weltliteratur, Philosophen und Psychologen, Filmpassagen und Liedtexte, Schauspieler und andere Prominente. Er erklärt sogar neurologische Hintergründe. Es gibt tatsächlich keinen Bereich, den sein Manifest nicht abdeckt. Sehr belesen muss der Autor sein. Seine Position ist klar: Pro Mono. Das Absurde an der Sache ist: Markus Spieker ist Single - Warum schreibt ein Single über die Monogamie? Hier ist es vielleicht wichtig anzumerken, dass „Mono“ nicht als Ratgeber anzusehen ist, sondern als reine Recherche – und eine gute Recherche hat der Autor geleistet.

Besonders zu empfehlen ist das Buch wohl den Unentschlossenen, vielleicht bringt es sie zu einer Pro-Mono-Einstellung. Spiekers Fazit: „3L ist möglich“.

Das Buch ist neben der gründlichen Recherche dennoch sehr subjektiv (was der Autor auch nicht bestreitet), und hört sich meines Erachtens ein bisschen nach nach einem Hilferuf an, frei nach dem Motto „Partnervermittlungsagenturen sind doof. Ich schreib ein Buch und lass mich überraschen.“ Mich würde interessieren, wie viele Heiratsanträge Markus Spieker mittlerweile bekommen hat. Er scheint wirklich ein  ganz besonderer Mensch zu sein. Es sei ihm gegönnt, von ganzem Herzen, dass es eine wirklich treue Seele sei, auf die er sich beim nächsten Mal einlassen wird.

Good Luck!

 

Markus Spieker: „Mono“

Pattloch Verlag 2011

256 Seiten, 16,99 Euro

ISBN: 978-3629022813

 

Hoch

 

 

Landschaften als Spiegelbilder der Seelenzustände

Svenja Leiber: „Schipino“

Von Iris Kersten

 

Deutschland, Polen, Weißrussland, Russland, Moskau. Landschaften und kleine Dörfer ziehen während der 36stündigen Zugfahrt an Jan Riba vorbei. Er ist ein Mann, Ende 30, in einer Lebenskrise. Einer Einladung seines russischen Freundes Viktor folgend, hat er sein Büro abgesperrt und sich auf den Weg gemacht. Doch er kommt zu früh an. Es ist erst März und Viktor wollte ihm doch Russlands Sommer zeigen. Also wartet Riba auf Viktors Rat hin (er sei nicht stabil genug, um sich Moskau anzusehen) lesend und schlafenderweise zwei Monate lang in dessen Wohnung auf den Aufbruch nach Schipino. In Wahrheit scheint es sogar, als sei Riba dabei, seinen Verstand zu verlieren.

Schipino war  früher einmal ein Feriendomizil für Aussteiger, heute ist es nur noch eine dem Untergang geweihte Kolchose, gelegen im Abseits (eine Stunde Fußweg entfernt vom nächsten Dorf mit Lebensmittelladen), „auf einem Hügel, umringt von Sümpfen, Bächen und Seen [mit] vier Datschen, mit Pappe gedeckt, morgens und abends bis ans Dach im Nebel“. Hier wohnen der lange Pawel, die dünne Anna, der Saatgutforscher Wassili, der Klavierspieler Tolik, die sonderbare Lilja, die immer mal wieder verschwindet, um unerwartet wieder aufzutauchen und die traurige Darja mit ihrem Sohn Nikolai.

Zum Osterfest endlich kommen Viktor und Riba an. Sie übernachten auf dem Heuboden und vertreiben sich die Zeit mit wandern, Bäume fällen, fischen und jagen. Die beiden Männer kommen sich näher. Riba ist auf dem Weg der Besserung. Dann erscheint Natascha auf der Bildfläche. Sie ist Viktors Freundin. Viktor entscheidet sich nun „gegen die Unfruchtbarkeit der Einsamen“ und für Natascha. Riba ist wieder allein. Neue Existenzzweifel tauchen auf, doch er findet eine Spiegelscherbe, die er „wie einen Pass“ bei sich trägt. Er wird zu Iwan. Und Lilja wünscht ihm zu seinem Geburtstag, er solle bleiben bis Mascha käme. Doch wer ist Mascha? - Mascha ist der Anfang und das Ende von Schipino. Und Lilja hat ihre Rückkehr angekündigt.

Nach und nach wird Ribas Vergangenheit bloß gelegt, nach und nach erfährt Riba das Geheimnis von Mascha.

Es wird Herbst und alle reisen ab. Nur Riba und Lilja bleiben zurück. Sie nähern sich einander an. Dann wird Lilja schwer krank. Riba versucht sich zu kümmern, doch dabei kommt es fast zu seinem Erfrierungstod. Er träumt: „Es gibt nichts mehr. Nur mich...für kurz noch...mich Nicht-Nichts.“ Endlich - die Selbstfindung. Darauf folgt stehenden Fußes das letzte Kapitel aus der Ich-Perspektive (waren doch die 23 vorherigen aus einer auktorialen Erzählperspektive geschrieben) und der Leser bekommt das Gefühl, dass Riba endlich anfangen kann, zu leben. Denn: „Manchmal muss man ein bisschen Leben schon begraben bevor man wirklich stirbt, damit man lebt.“

Und was wird aus Mascha? Was aus Lilja? 

„Wenn das Kraut zu blühen beginnt, im Frühling, dann sagen wir: Jetzt trägt Iwan die Maria.“

Ungewöhnliche Rituale, geheimnisvolle Lebensweisheiten und magische Landschaften bringen uns zum Magischen Realismus, einem Konzept, das versucht, das Wunderbare in der menschlichen Erfahrungswirklichkeit zu entdecken und die mysteriösen Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umgebung sichtbar zu machen. Infolgedessen sind die Landschaftsbilder der kraftvollen Natur mit ihren verfallenen Dörfern und Kolchosen als Spiegelbilder der menschlichen Seelenzustände zu betrachten. Die Bildhaftigkeit der Sprache, melancholisch und symbolhaft, die Sinne ansprechend, rätselhaft und ohne jegliche Vergleiche,  macht den Roman so kraftvoll und poetisch.

Ein Buch voller Geheimnisse, die auch am Ende nicht vollends gelüftet werden. Ein Hochgenuss!

 

Svenja Leiber: „Schipino“

Schöffling Verlag 2010

208 Seiten, 18,95 Euro

ISBN: 978-3895612060

 

Hoch

 

 

Anglerlatein

Jon Ewo: „Am Haken“

Von Susan Müller

 

Bud hat ein Problem, er muss eine Mail verfassen, denn er hat vor einiger Zeit seinen Lehrer Valen provoziert, und dies ging sehr böse aus, mit einem Brand auf dem Schulgelände, den er hiermit erklären soll. Er soll es dem Schulpsychologen erklären und das in einer bestimmten Frist in den Ferien, die so allmählich ihrem Ende entgegengeht.

Das ist aber nicht genug, denn wie jedes Jahr kommt Buds Cousin Jerry, der sein ganzes Gegenteil ist. Bud wiegt charmante 105 Kilogramm, ist eher wortkarg und seine beste Freundin heißt Selma. Jerry ist dünn, gern redend, auf alles eine Antwort oder eine Idee und findet mehrere Frauen gut.

Jerry bringt auch so gute Ideen mit, die Buds Eltern glückselig sein lassen. Beide sind überzeugt, Jerrys Aufenthalt kann nur gut für Bud sein, der eigentlich nicht so entzückt von Jerrys Plan ist, in den Sommerferien das elterliche Haus zu streichen.

Und da ist da noch der Riesenhecht, den jeder Hobbyangler und auch jeder Profiangler gern am Haken hätte. Geschichten und Anglerlatein hört und liest man zu diesem großen Prachtexemplar genug, ebenso verschiedenste Versionen. Die süße Maggie versucht in diesem Bereich ebenfalls ihr Glück, und die findet sogar Bud zuckersüß. Was etwas heißen will, denn bisher traute er sich nicht mal, sich für Mädchen zu interessieren.

Doch auch diesmal bleibt es für Jerry nicht bei Selma als Objekt seiner Begierde, sondern auch er findet Maggie klasse.

Aber Bud mausert sich im Laufe der Zeit und kann mit Ideen aufwarten, die zum Beispiel das Streichen des Hauses beschleunigen, da er selbst und Jerry nicht dauerhaft an dieser Aufgabe dran blieben. Dass hat er wiederum aber nicht zuletzt seinem Cousin zu verdanken, denn der hat Bud dazu gebracht seinen psychologischen Bericht abzuschließen.

Ihr seht, ein dicker Wälzer, der das Buch zweifelsohne ist, sollte nicht abschrecken, es zu lesen, denn der Umfang ist berechtigt. Es sind viele Geschichten rund um Bud, die in der Lektüre stecken. Und am schönsten ist, dass dieser letztendlich sogar ziemlich zu sich selbst findet. Dick, aber keinesfalls langweilig ist diese Leselektüre.

(ab 14 J.)

 

Jon Ewo:

„Am Haken“

380 Seiten, Euro 12,90

dtv 2010

ISBN: 978-3423248044

 

Hoch

 

 

Sind Sie bibelfest?

Nelly Dix: „Ach meine Freundin, die Tugend ist gut, aber die Liebe ist besser“

Von Iris Kersten

 

Nelly Dix, geboren 1923, zur Zeit der Entstehung dieser Erzählungen gerade Anfang 20, bringt neues Leben in altbekannte (oder auch nicht) Bibelgeschichten.

Mit Witz und Ironie erzählt die Autorin in „Die Belagerung von Bethulia“ das Buch Judith neu und gibt dabei Einblicke in die Gefühlswelt der Charaktere. Holofernes, der Oberbefehlshaber des assyrischen Königs Nebukadnezar lagert mit seinem Heer vor den Toren der israelitischen Stadt Bethulia. Die tugendhafte Witwe Judith soll nun als Parlamentärin in das Lager des Feindes gehen und den Feldherrn einwickeln. Nelly Dix berichtet aus dem apokryphen Buch ohne die eigentliche Bluttat der Witwe, den Mord an Holofernes, zu beschreiben. Stattdessen stellt die Autorin eine Innensicht der Personen dar: Judiths Zweifel an dem Vorhaben werden sichtbar und dann verliebt sie sich auch noch in Tiberius, einen Soldaten aus dem feindlichen Lager. Außerdem lernt der Leser Tiberius und Sedekias kennen, die beide um die Gunst Judiths buhlen. Nach dem Mord an Holofernes kommt es zu einem Gemetzel, aus dem das jüdische Volk als Sieger hervorgeht. Judith selbst fühlt sich leider nicht als Gewinnerin. Sie muss feststellen, dass zwar die Tugend gut, die Liebe aber besser ist. Doch dazu ist es schon zu spät. Tiberius und Sedekias, die einzigen Überlenden ihres Heeres, sind sich einig, dass „zwei Männer, die sich nötig brauchen, wegen eines Frauenzimmers keinen Streit haben [sollten]“...

Ganz menschlich wird dem Leser Kain  in „Der Stärkere“ präsentiert, der nicht nur eifersüchtig auf das Opfer Abels ist, welches Gott lieber nahm als seines, sondern dessen Bruder auch offensichtlich mit seiner Frau flirtet. Von diesem verhöhnt, greift Kain, der Kleinere und Schwächere, zum Messer. Das ganze endet – wie bekannt – mit dem Tod Abels.

Unschlagbar ist das, was nun folgt: die Darstellung von Kains Gewissensbissen und seiner Reue, wie er seine Frau ziehen lässt, nur damit sie nicht mehr mit ihm, einem Mörder – dem ersten Mörder der Menschheit – zusammen sein muss. Er schließt sich den Gesetzlosen des Waldes an und wird gerettet durch Jezabel, der anscheinend einzigen Frau der Sippe, die in Kain sein wahres Ich erkennt, sein gutes Ich, das damals aus Eifersucht handelte und heute reumütig sein Dasein fristet. „Du bist der erste Mensch, der mir begegnet ist. […] Das andere hier – das sind alles Männer“. Jezabel ist es, die Kain die Kraft gibt, dem Waldleben zu entkommen und mit den Schlittenhunden nach Nod zu ziehen, dorthin, wo er seine Frau mit seinem Erstgeborenen wieder trifft. Happy End. Und ist es nicht schön, zu erfahren, dass Kain, von dessen Geschlecht die Menschen abstammen, nicht böse war...

„Jonas“. Wohl eine der wenigen Geschichten, die wahrscheinlich jeder kennt: Jonas im Walfischbauch. Herrlich, wie Nilly Dix von diesem ungewöhnlichen und glitschigen Aufenthalt erzählt. Zwei Tage nachdem er wieder ausgespuckt wurde, riecht Jonas immer noch nach totem Fisch. Gott hatte also Jonas beauftragt, die Stadt Ninive zur Buße aufzurufen. Die Autorin beschreibt nun, wie Jonas mit sich selbst ringt: auf der einen Seite will er nicht nach Ninive, um der Stadt das Strafgericht Gottes anzudrohen (so würde er sich natürlich unbeliebt machen), auf der anderen Seite wird er von einem inneren Zwang getrieben, dennoch dorthin zu gehen. Mehr als ein Jahr reist er, um nach Ninive zu gelangen: zuerst „gegen seinen Willen […] und nachher freiwillig“ (um seine Ruhe zu haben – die Sache mit dem Walfisch hatte ihn davon überzeugt, dass sein Auftrag wohl unabwendbar war). Seine Bußpredigt dann (zwar etwas lang, aber sehr einfallsreich) hält er aus reinem Zorn gegen den Diener Gottes, der ihm damals diesen unerwünschten Auftrag im Namen des Herrn erteilt hatte und der Jonas immer wieder erscheint (wie auch zu Beginn dieser freudlosen Predigt und was ihn ja eben so wütend gemacht hat). Jonas lügt also das Blaue vom Himmel herunter und denkt sich die schrecklichsten Strafen für diese frevelhafte Stadt aus. Entgegen seiner Vermutung ist sein Aufruf zur Buße wirksam: Die Stadt fastet, betet und verbrennt ihr ganzes Hab und Gut. Der Diener Gottes, stellt sich zum Schluss heraus, ist niemand anderer als … nein, nicht Gott. Lesen Sie es selbst.

In „Ein ganz gewöhnlicher Tag“ schreibt die Autorin die Rettung der Menschheit durch Noah und seine Arche neu. Sie stellt die Probleme der Familie vor dem Auszug dar: Die Schwierigkeiten, die Tiere herbeizuschaffen und dabei die Feststellung, wie unnötig es doch eigentlich sei, selbst das Ungeziefer wie Wanzen und Läuse zu retten, die Frage nach dem „Was pack' ich ein?“. Da hat so jeder seine heimlichen Schätze (von einem kleinen Jadegott bis zu 20 Handwerkern, die hinterher beim Wiederaufbau helfen sollen), die versteckt werden müssen. Außerdem sind Noah und seine Familie im Gegensatz zur Bibelgeschichte genau so sündhaft wie der Rest des Volkes auch: Noah ist alt, unreinlich und griesgrämig, Sem ist geldgierig und geizig, Ham betrügt sein Frau und Japhet ist faul. Die einzigen, die irgendwie (zu etwas) gut sind, sind die Frauen. Nachvollziehbar sind auch die Zweifel von Noahs Frau an dessen Zurechnungsfähigkeit: Könnten seine Prophezeiungen doch auch ein Zeichen von Altersschwachsinn sein...

Und Gott??  Natürlich sieht er, wie sie ihn alle hintergehen und ihre Heimlichkeiten haben, doch er hat ein Einsehen: „Nachdem ich sie nun geschaffen habe, müssen wir wohl alle miteinander irgendwie weitermachen.“

Besonders durch die vielen umgangssprachlichen Dialoge gelingt der Autorin eine glaubhafte Darstellung der menschlichen Seite der mythologischen Figuren. Der Leser schaut dabei nicht nur zu: Nelly Dix gibt ihm die Möglichkeit, sich in die Charaktere hineinzuversetzten und mit ihnen mitzufühlen. Dabei ist ihr Schreibstil locker, flockig, frech – teils lustig, teils ironisch – vielleicht so, wie sie damals selbst war als Zwanzigjährige. Nichtsdestotrotz, wer nicht bibelfest ist, sollte vor der Lektüre wenigstens eine Zusammenfassung des Stoffes lesen. Nicht, dass die Erzählungen ohne die Original-Bibel-Geschichten nicht verständlich wären, aber es macht einfach mehr Spaß und auch Sinn, wenn man die Hintergründe kennt.

 

Nelly Dix:

 „Ach, meine Freundin, die Tugend ist gut, aber die Liebe ist besser“

205 Seiten, 19,90 Euro

Libelle-Verlag 2010

ISBN: 978-3905707434

 

Hoch

 

 

Ein Sommer mit Folgen – Die Geschichte einer Freundschaft

Hansjörg Schertenleib: "Cowboysommer"

Von Iris Kersten

 

Erinnern wir uns nicht alle an das Gefühl, wie es war... damals...? Der erste Sex, die erste große Liebe, wahre Freundschaft zu spüren oder einfach nur dem Freiheitsdrang nachgeben und abzuhauen zu wollen, entweder um sich selbst zu finden oder einfach nur um den Erwachsenen zu entkommen.

Die Rahmengeschichte wird geschaffen von Hanspeter. Der ist im Winter 2010 Anfang 50, Schriftsteller und auf Lesereise in Zürich. Dort trifft er rein zufällig zum ersten Mal nach 30 Jahren seinen Jugendfreund Boyroth an einer Imbissbude wieder. Boyroth war damals Hanspeters bester Freund, ein Idol, das er bewunderte, dem er nie einen Wunsch abgeschlagen hätte. Heute ist Boyroth ein nach Alkohol riechender Schausteller mit zotteligem Bart und einem schmutzigem Parka. Aber noch immer kann Hanspeter ihm keinen Wunsch abschlagen. Sie fahren gemeinsam in Boyroths Behausung, hören ihre alte Musik und trinken. Und es ist Boyroth, der Hanspeter auf die Idee bringt, ein Buch zu schreiben, über ihn und Hanspeter, über Fabio und Yolanda, über den Sommer einer Freundschaft, der in einer Katastrophe endete.

Hanspeter ist 17 und wächst im Zürich der 70er Jahre auf. Er macht eine Berufsausbildung als Schriftsetzer, liest und interessiert sich für frisierte Mofas, Mädchen und Rockmusik (Leonhard Cohen hört er nur heimlich) und ist dabei der eher schüchterne Typ. Als er Boyroth beim Fußballtraining kennen lernt, weiß er sofort, dass Boyroth sein bester Freund werden wird, derjenige, mit dem er die selbstgewählte Einsamkeit teilen will. Denn Boyroth, da ist er sich sicher, hatte es schon geschafft, er selbst zu werden. Ihm, Hanspeter, steht diese schwierige Aufgabe noch bevor.

Die beiden verbringen ihre Zeit mit Fußball, Musik, Kiffen und Motorrädern. Sie wollen anders sein als die anderen. Boyroth verführt Hanspeter sogar zu seinem ersten Besuch bei einer Nutte, obwohl der in Boyroths Schwester Yolanda verliebt ist.

Auch Fabio ist Boyroths Freund und es entsteht ein stetiger Konkurrenzkampf und ein ständiges Buhlen um den gemeinsamen Freund und auch um Yolanda.

Während Boyroth, Fabio und Yolanda den Sommer über in der Schweiz bleiben, macht Hanspeter eine Interrail-Tour nach Norwegen. Und hier, in diesem Urlaub, ganz allein, finden Veränderungen mit ihm statt. Hanspeter unternimmt diese Reise, um etwas über sich selbst herauszufinden und sich selbst dabei kennen zu lernen. Und es gelingt ihm. Nach dem Urlaub fühlt er sich Boyroth ebenbürtig.

Als er dann aus dem Urlaub zurückkehrt, erfährt er von einer Katastrophe, die geschehen ist. Die Schuld daran hat seinen Freund gebrochen und verfolgt ihn bis heute. Und hier endet das Buch, im Frühling 2010. Ihre Wege kreuzen sich noch ein letztes Mal, doch Boyroth macht sich aus dem Staub, bevor Hanspeter mit ihm reden kann. Für Boyroth gibt es nur noch einen Ausweg, mit der Schuld fertig zu werden, mit der er 36 Jahre gelebt hat.

Um den aufmerksamen Leser aus seiner Verwirrung zu befreien, wie Boyroths Tod im Frühjahr 2010 mit dem Treffen der beiden Freunde im Winter 2010 zu vereinbaren ist: Autor und Lektorat sind da einfach ein Fehler unterlaufen, es müsste zu Anfang des Romans ganz eindeutig „Winter 2009“ heißen. Alles andere ergibt keinen Sinn.

Hansjörg Schertenleib, Anfang 50, geboren in Zürich, gelernter Schriftsetzer und heute erfolgreicher Schriftsteller, schafft einen zum größten Teil autobiographischen Roman, der eine Freundschaft im Sommer 1974 aus dem Blickwinkel eines Jugendlichen auf dem Weg seiner Selbstfindung beschreibt. Dabei hat Schertenleib durch den Rückblick die Möglichkeit, aus der Sicht eines heute erwachsenen Mannes, sein damaliges Handeln und Denken zu reflektieren. Die Sprache, die er wählt, ist auf der einen Seite poetisch, auf der anderen Seite wirkt sie manchmal einfach und brutal, genau dem Stil der Jugendlichen angepasst. Und so gelingt es dem Autor, dass der Leser sich in die Haut dieses 17-jährigen hineinversetzen kann beziehungsweise bringt er ihn dazu, sich wieder an seine eigene Jugend zu erinnern. Hansjörg Schertenleib erzählt von einer Freundschaft, die man nicht erklären kann. Und er berichtet von einer Schuld, davon, was sie aus einem machen kann und wozu sie einen bringen kann. Ein sagenhaftes und feinfühliges Buch.

 

Hansjörg Schertenleib:

Cowboysommer

Aufbau Verlag  2010

244 Seiten, 19, 95 Euro

ISBN: 978-3351033217

 

Hoch

 

 

Die Silben „freiheit“ anders interpretiert

Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee

Von Susan Müller

 

In diesem Buch geht es um Freiheit und Lebensträume und wie so oft um die Liebe.

Ersteres kann nicht gelebt werden, denn unsere Romanhelden wohnen auf der kürzeren Seite der Sonnenallee.

Die längere liegt nämlich auf der westlichen Seite Berlins und die Anwohner dort können auf die Straßenseite der DDR-Bürger schauen. Schließlich sind deren Häuser höher und für Beobachtungen geeignet. So werden direkt die Klamotten der Ostbürger kommentiert und das auch noch hörbar für unsere Helden Micha, Mario, Wuschel und Miriam.

Letztere wird regelrecht angebetet von Micha, aber der ist schüchtern und etwas ungelenk, was den Umgang mit den Mädchen betrifft. Miriam selbst lässt keine Gelegenheit aus, reifere Jungen mit Motorrad und -wenn möglich- aus der unerreichbareren Seite Deutschlands direkt vor ihrem Haus parken zu lassen und -wenn möglich- diese sehr auffällig mit einem Kuss zu verabschieden.

Mario hingegen begegnet seiner Traumfrau, die zwar auch ihre ureigenen Ansichten vertritt, immerhin auf der östlichen Seite Berlins. Die beiden haben regelrechte Rosinen im Kopf und rechnen und probieren, wie viel Leute es braucht, um der DDR selbst ihr Land abzukaufen. Nur Mario macht die Rechnung neu auf, als er nach seiner Verhaftung sehr viel Zeit dafür hat. Er ist nämlich im Zug eingeschlafen und hat die Vor-Grenze-Haltestelle verpasst und wird dafür in Gewahrsam genommen. Wenn das Gute an dieser Sache aber war, dass er seine Rechnung überprüft, weiß er jetzt, dass diese nie aufgehen wird, Bürger und Land und Kosten. Wenigstens eine Unbekannte, die er nicht lösen kann.

Micha hat derzeit ein gänzlich anderes Problem, denn er versucht schon geraume Zeit, einen Brief zurückzubekommen, der ihm einfach aus der Hand gerissen wurde durch einen Windstoss und der jetzt ungelesen auf der anderen Seite der Mauer liegt. Natürlich der Verbotenen. Und wer hat ihm das eingebrockt? Der ABV, der nach einem kleinen zwischenmenschlichen Disput seine Macht ausspielt und Micha ständig den Ausweis zeigen lässt. Dabei ist es dann nämlich passiert, weg war der Brief.

Und fast auch Miriam. Als er ihr nämlich näher als nah zu kommen scheint, platzt ein Treffen mit ihr, weil ihn der ABV verhaftet, ob dem fehlenden, ständig mitzuführenden Personalausweis. Der ABV kennt Micha und dessen Papiere schon inn- und auswendig kennt, aber Micha führt ihn nicht mit, und das ist die kleine Rache des degradierten Mannes.

Nach einigen Fehlversuchen und immer noch dem Glauben daran, er könne nur von Miriam, seiner Traumfrau,  sein, erzählt er irgendwann Wuschel davon. Der hat die zündende Idee. Gesagt, getan, nur wird Wuschel zum Entsetzen aller dabei angeschossen. Blasse, verwirrte Gesichter über ihm, können kaum glauben, dass ihn Schreck und Stosskraft niedergestreckt haben und er noch lebt. Seine Rettung war die von ihm schon ewig gesuchte und endlich erstandene Langspielplatte von den Rolling Stones. Aber das diese nun zerstört ist, kann Wuschel momentan nicht dankbar damit gleichsetzen, dass er dafür noch am Leben ist.

Dieses Buch zeigt die Nöte und Ängste, aber auch die Träume der Jugendlichen in der DDR, denen schnell mal Verbote ausgesprochen wurden und auch Hindernisse in den Weg gelegt wurden, wenn aus dem Wort Meinungsfreiheit die Silben „freiheit“ anders interpretiert wird.

Es ist ein ernstzunehmendes Buch und vor allem ein gut zu lesendes. Inzwischen auch verfilmt, bin ich persönlich ein Verfechter des Romans, der einfach fesselt, Spannung erzeugt und streckenweise auch erheitert.

 

Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee

Fischer Verlag 2001

160 Seiten, 7,95 Euro

ISBN 978-3596148479

 

Hoch

 

 

Eis essen mit Che - nur Che war leider schon nicht mehr da

Ein wunderbares Buch: Saïd Sayrafiezadeh: "Eis essen mit Che"

Von Iris Kersten

 

Von dem Titel geleitet und in dem Irrglauben, das Buch könnte mich nach Südamerika bringen, habe ich mich an die Lektüre gemacht. Weit gefehlt. Wir befinden uns in den USA. Der Autor und Autobiograph Saïd Sayrafiezadeh macht zwar mit zwölf Jahren eine nicht ganz freiwillige Woche Kommunismus-in-Aktion-Kennenlernurlaub auf Kuba, aber zu der Zeit hatte Che schon lange sein Leben für die Revolution im bolivianischen Dschungel gelassen.

Trotzdem war es vielleicht ein gelungener Schachzug des Verlages, den Originaltitel "When Skateboards Will Be Free: A Memoir of a Political Childhood" nicht wörtlich zu übersetzen. Ich für meinen Teil hätte mit diesem Titel nie zu dem Buch gegriffen, und das wäre wirklich schade gewesen. Denn es ist ein wunderbares Buch.

 

Mit einer unterschwelligen Ironie erzählt Saïd Sayrafiezadeh seine Lebensgeschichte, wie sein Vater Mahmoud, Exil-Iraner und Mathematikprofessor und seine Mutter Martha, eine amerikanische Jüdin mit dem sehnlichen Wunsch, Schriftstellerin zu werden, durch puren Zufall bei einem Familienspaziergang an den Sozialismus geraten. Von diesem Augenblick an ändert sich ihr Leben: Einer Berufung folgend entwickelt sich das politische Engagement der Eltern zum Hauptbestandteil ihres Daseins. Der Vater verlässt sogar die Familie, um für eine sozialistische Weltrevolution zu kämpfen. Saïd, das Kleinste der drei Kinder, ist zu diesem Zeitpunkt neun Monate alt. Der Beitrag der Mutter zur Abschaffung des Kapitalismus sind eine freiwillig auferlegte Armut und die demütige Arbeit für die Partei (neben ihrer eigentlichen Arbeit als Sekretärin an der Universität). Ihren Traum, das Schreiben, hat sie aufgegeben. Auch die Geschwister ziehen aus, um ihr Leben dem Sozialismus zu widmen, so dass Saïd größtenteils alleine und sich selbst überlassen aufwächst.

Nach mehrfachen Umzügen – er ist jetzt sieben – beschleicht den Jungen das Gefühl, dass irgendetwas bei ihnen „völlig aus dem Ruder gelaufen“ ist.

Von seinen Klassenkameraden diskriminiert, sind seine Reaktionen auf politische Fragen dennoch spontan und entweichen seinen Lippen wie Gebete, immer dabei, die Genossen stolz zu machen. Und so katapultiert er sich selbst von einer peinlichen Situationen in die nächste.

In der sehnlichen Erwartung der Weltrevolution, dem Tag, an dem alles anders wird, ist Saïd in einem ständigen Gewissenskonflikt, verfolgt von Wünschen, die er nicht denken darf, weil es dem Sinne des sozialistischen Strebens und der Gesinnung seiner Eltern widerspricht.

Die politische Haltung seiner Eltern hat einen so großen Einfluss auf ihn genommen, dass er selbst als Erwachsener noch davon überzeugt ist, Kommunist zu sein (obwohl sein Handeln eindeutig dagegen spricht). Dabei ist er aber nicht in der Lage, Kommunismus zu definieren, geschweige denn ihn vom Sozialismus zu unterscheiden.

Saïd Sayrafiezadeh springt gekonnt zwischen dem erwachsenen Saïd – er lebt in New York und arbeitet für die „millionenschwere Kaiserin aller Haushaltsgegenstände“ Martha Stewart – und den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in unchronologischer Reihenfolge hin und her, niemals unlogisch, einem Gedankenstrom folgend, der dem Leser sein tiefstes Inneres widerspiegelt.

Auch gibt das Buch Einblicke in die Arbeit der Sozialistischen Arbeiterpartei unter der Führung von Jack Barnes, beginnend 1972, geht aber keineswegs in historische Details.

Es ist weniger ein politisches als eher ein erklärendes, poetisch beschreibendes Werk. Nicht ohne Stellung zu nehmen, aber ohne zu verurteilen. Tatsachen werden dargestellt – hervorragend übrigens aus der Sicht des Kindes, erzählt mit einem Idealismus und infantiler Unwissenheit, dass es den Leser trotz der trostlosen Situation, in der sich Saïd befindet, teilweise zum Lachen bringt. An anderen Stellen wiederum genügen Andeutungen, um den Leser in  Rage zu versetzen. Es entsteht sowohl ein Unverständnis für die Mutter, die zum Beispiel ihr vierjähriges Kind mit einem Genossen allein in der Wohnung lässt, um zu einer ihren politischen Versammlungen zu gehen – Missbrauch ist das Ende vom Lied – als auch eine Wut auf den Vater, der die Familie zu Gunsten der Politik sitzen lässt. Für den Jungen ist sein Vater ein großer Held und Revolutionär, aber er ist seinem Sohn gefühlsmäßig so fremd, dass dieser mit fünf Jahren bei einem zufälligen Treffen mit  seinem Vater nicht einmal weiß, wie er ihn anreden soll. Diese Frage zieht sich übrigens wie ein roter Faden durch Saïds ganzes Leben und somit durch das ganze Buch.

Vor allem lohnt es sich zwischen den Zeilen lesen. An dieser Stelle nur ein Beispiel als Kostprobe: Der großartige Vater bestellt im Restaurant einen Chardonnay – und ist überrascht einen Weißwein zu bekommen... nichts weiter – keine Wertung von Seiten des Autors.

Auch bekommt man zum Ende des Buches ein wenig Einblick in die Denkweise der Mutter, was sie aber keineswegs entschuldigt.

Eine Autobiographie zur Aufarbeitung der Kindheit?

Und wenn schon. Wer so gekonnt schreibt, sollte sein Talent nicht bei einem Psychologen verschwenden (so manch einer versucht ja dort seine Kindheitserlebnisse zu verarbeiten ...), sondern Saïds Beispiel folgen. Die Aufzeichnung seiner Lebensgeschichte ist ein gelungenes Romandebut (außerdem hat Sayrafiezadeh Kurzgeschichten, Essays und Theaterstücke veröffentlicht), das durch ein gekonntes In-Szene-Setzen den Leser am Schicksal des Jungen Saïd  teilhaben und mitfühlen lässt.

 

Saïd Sayrafiezadeh: „Eis essen mit Che“

Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell

Aufbau Verlag 2010

267 Seiten, 19,95 Euro

ISBN-13: 978-3351032982

 

Hoch

 

 

Zeugen der Geburt eines Kulturgutes

Ursula Heinzelmann: "Erlebnis Käse und Wein.

Eine Entdeckungsreise durch neue deutsche Genusslandschaften"

Von Hélène Reitz

 

Das Großgebiet Kultiviertes Essen und Trinken, so denkt man, wird beherrscht von Ergrauten – provencegekräutert und toskanaolivengeölt. Tägliches Sich-Feiern für das Horizonterweitern der deutschen Gourmetmäuler, dazu ein wenig Politisieren, nicht zu viel, man will es sich nicht verderben lassen von der jungen, blöden Generation, die da folgt.

Dann gibt es noch das Kleingebiet Kultiviertes Essen und Trinken, das pflegen die Großstadtsingles, die „Spanisch kochen“ nach Paperback und Biolek. Gut, die sind natürlich geschmacklich im Nirwana, aber sie besetzen penetrant den Kochbuchmarkt.

Man weiß nicht, wenn man sich da so dazwischenquetscht, weil – ich esse auch gern gut – wo man sich eigentlich zuhause fühlen darf. Keine Gemeinsamkeit mit denen da oben. Ganz weit weg vom offiziellen Deutschland, seiner korrupten Industriepolitik und seiner Kriegsrhetorik.

Aber ich schätze die, die hier, unterhalb von all dem, richtig was los haben.

Und ich mag Käse! Als kleines Kind diesen wundervoll gelben Scheiblettenkäse, als etwas größeres Kind Gouda, dann kam Edamer hinzu, schließlich das erste vorsichtige Stück Camembert, und dann am Harzer Roller gerochen. Das verschlug mir ein paar Jahre den Atem, aber ich vergaß es nicht und kehrte zum Käse zurück. Erst fand ich die Auswahl der normalen Supermärkte teuer und groß, dann das Gegenteil. Ich weinte vor den französischen Käsetruhen im Supermarché. Dann machte ich einen Spaziergang auf einem Deich in Nordfriesland (Festland). Eine ältere Dame sprach mich an, und wir kamen ins Gespräch über das, was früher in dieser Gegend genutzt und gekocht wurde. Was ihre Eltern noch aus dem Gras, was im Wattenmeer wächst, an Essen zaubern konnten! Kein Mensch kenne die Rezepte mehr. Und der Käse erst!

Wochen später wachte ich schweißgebadet auf. Was geht da verloren! Was gibt es alles in Deutschland! Etwa wirklich Käse? Wer konnte mir helfen?

Es ist Ursula Heinzelmann. Sie hat ein Buch geschrieben: „Erlebnis Käse und Wein. Eine Entdeckungsreise durch neue deutsche Genusslandschaften“. Allein um des Vorwortes willen lohnt sich die Anschaffung: Kenntnisreich, mit Rück- und Vorblicken, aber immer beim Thema, kritisch-distanziert, wo es nötig ist und flammend-leidenschaftlich auch! Natürlich gibt es dazu viele praktische Tipps –oder eher Bekenntnisse zur richtigen Behandlung von Käse-, man muss zugeben: Ein bisschen Entwicklungshilfe tut ja not (ich habe gleich mehrere Ideen klaglos übernommen). Doch danach geht es erst richtig los, die Fahrt durch Käse-Deutschland, die Fahrt zu Leuten, die etwas anderes aus ihrem Leben machen wollen, etwas Gutes herstellen wollen.

Natürlich sind es heutzutage auf ihre Art Aussteiger; heute, wo das Arbeitsleben derart auf Effizienz, Leistung und nicht auf selbstbestimmtes Leben ausgerichtet ist. Aber wer nur um des Abspringens aus dem Hamsterrad willen ein wenig Hofmilieu und Sonnenuntergänge will, der ist völlig falsch als Käser und wäre es auch in diesem Buch. Ursula Heinzelmann, Sommelière und Journalistin, hat über sechzig Käsereien besucht. Meist Kleinstbetriebe, ein, zwei Begeisterte, die dem Begriff Käse aus Deutschland erst eine Bedeutung einhauchen wollen. Heinzelmann portraitiert sie lebendig und kurzweilig. Sie nimmt sich natürlich immer ein wenig vom Käse mit, und dann setzt sie sich mit Nachwuchs-Winzern zusammen und testet; neuer Wein, neuer Käse, und wie sie zusammenpassen.

Das ist ein großer Spaß, auch für den Leser. Doch nicht oberflächlich: Heinzelmann wird zwischendurch immer mal wieder heftig, wie ihre Gesprächspartner. Es geht um europapolitische Vorgaben, um Großmolkereien, um fehlgelenkte Bio-Philosophien; um manchmal bittere Wahrheiten hinter dem Ringen um eine neues Kulturgut. Käse aus Deutschland? Braucht noch viele Pioniere! Und Menschen, die sich trauen, sich mit ihm zu beschäftigen. „Erlebnis Käse und Wein“ liefert die Chance dazu. Ich kann nur sagen: Ergreift sie!  

 

Ursula Heinzelmann:

Erlebnis Käse und Wein.

Eine Entdeckungsreise durch neue deutsche Genusslandschaften

Scherz Verlag 2009

280 Seiten, 18,95 Euro

ISBN 978-3502151395

 

Hoch

 

 

Finnische Noblesse

Edgar Hoesch: "Kleine Geschichte Finnlands"

Von Matthias Winterfeld

 

Leningrad Cowboys, das ist einer der guten alten Filme, wegweisend und zeitlos, und er ist von Aki Kaurismäki. Ein Finne. Also Finnland. Damit will ich mich beschäftigen, den Geist erforschen dieser anscheinend von Natur aus skurrilen Bevölkerung, dieser schamlos langweiligen Landschaft, dieser weltpolitisch witzlosen Lage und diesem wie ein Lehr-Exempel für Dunkelheit und Helligkeit entwickelten Dauersonne oder Niesonne.

Und weil nach 40 Jahren reisende Deutsche ja jeder weiß, dass Reisen nicht viel Einsicht bringt, schaffe ich mir „Kleine Geschichte Finnlands“ an. Ein Taschenbuch für 13 Euro. Der Verfasser ist Edgar Hoesch, der war Professor in München für Osteuropäische Geschichte, ein Professor wie aus einer silbergrauen Vorzeit, als es unter den Universitätsgelehrten noch ungeränkingte, unbestechliche Fachleute gab. Er war ein Hochschullehrer mit selbstverständlich umfangreichen Kenntnissen und einer ruhigen Art zu lehren. Balkan sein Gebiet, auch russische und sowjetische Geschichte. Aber Finnland?

Ja. Seine Frau ist Finnin, und ein Gelehrter alter Schule wäre kein Gelehrter alter Schule, wenn er aus seinen Aufenthalten in Finnland nur ein paar Einkäufe im Flughafen von Helsinki herausgeholt hätte. Hoesch ist tief eingestiegen in die Geschichte und ihr Produkt, die Gegenwart dieses Fünfmillionenvolkes, das heute eine lange EU-Außengrenze hat. Die Beziehungen zu Russland waren oft genug von viel diplomatischem Taktgefühl abhängig, von Gratwanderungen einzelner und Plänen der Großmächte, denen am Wohle der Finnen nicht viel lag. Finnland ist Europa, kein Zweifel. Während der französischen Revolution kam der Ruf nach Unabhängigkeit: „Lasst uns Finnen sein.“ Die Suche nach Identität, nach einer verbindenden Sprache und Kultur führte über ein unglaublich reiches Liedgut, das noch heute lebendig ist und gepflegt wird, zu einem hohen künstlerischen Schaffen.

Die Schulen in Finnland waren lange Zeit nicht gut, und mittlerweile sind die Anstrengungen, etwas besser zu werden, im Gefolge von PISA gefeiert worden. Damit wird das Schulsystem zwar völlig überschätzt, aber die Entwicklung ist wirklich positiv. Hoesch betont dies und stößt sich doch an gewissen Schwächen wie der Vermittlung der „Autonomiezeit“ (1809 – 1917), die den Schülern den großen Anteil der Russen an der Entwicklung Finnlands vorenthält.

Ohne Kunst tut sich nichts. Ohne sie steht kein Volk zusammen, kann es kein demokratisches Miteinander hervorbringen. Ab 1880 gab es das „Goldene Zeitalter“ für die Finnen, Maler, viele Illustratoren, Dichter, Musiker, Komponisten. Finnland war voll da, und als in Russland der Zarismus fortgespült wurde, hielt auch die Finnen nichts mehr in der Unterdrückung. Die Untiefen des 20. Jahrhunderts –„Waffenbrüderschaft“ nur als ein Stichwort- fanden in einem Gespräch zwischen Staatspräsident Kekkonen mit dem russischen Kremlchef Chruschtschow sehr deutlichen Niederschlag: Und selbst wenn ganz Europa kommunistisch würde, sagte Kekkonen, bliebe Finnland doch auf dem Boden der skandinavischen Demokratien. Eine Szene, die ich mir kinoreif vorstelle. Aber für die Finnen war es ernst. Man machte Geschäfte mit den Russen, aber man wurde, anders als die sprachverwandten Esten, nicht überrannt und einverleibt. Vieles erfährt und versteht man dank Hoesch; den Verlust eines Teils von Karelien, das Schicksal der Saamen und der Status der Alands-Inseln.

Ich habe mir viel Zeit genommen für dieses Geschichtsbuch. Über Wochen habe ich es gelesen, sehr genau, und ich habe die vielen Gedankenanstöße zum Anlass genommen, tatsächlich nachzudenken. Wer wissen will, für den ist dieses Buch ein Schatz.

Dann bin ich doch hingefahren. Im Winter. Dunkel und kalt ist es in Finnland, und das Leben dort kostet auch Überwindung. Für die Finnen sind Sportler Volkshelden, viele Wintersportler natürlich. Allein die Skispringer!

Dann die Architektur und das Design!

Finnland hat seine Helden in vielen sehr unterschiedlichen Bereichen, doch der Respekt für die Leistung und das Empfinden der Größen für ihre Verantwortung verbindet auch heute. Aki Kaurismäki habe ich nicht kennengelernt, aber viele andere. Auch berühmte Finnen darunter. Ich habe mit ihnen geschwiegen. Mir wiesen sich sogar neue Wege, was wichtig ist im Leben. Ich habe einen Anstand hinter groben Gesichtern erlebt. Finnische Noblesse.

 

 Edgar Hoesch:

"Kleine Geschichte Finnlands"

Beck Verlag 2009

166 S., Euro 12,95

ISBN 978-3406584558

 

Hoch

 

 

Eine echte Annäherung

Marie-Luce Hubert und Jean-Louis Klein: "Pferde in Freiheit"

Von Kirsten Bröse

 

Nun gibt es immer Pferdefreunde, Irre, die sich von nichts abhalten lassen, sich ausschließlich für das Tier mit den vier Hufen und dem Schweif zu interessieren. Für diese Besessenen ist „Pferde in Freiheit“, ein großformatiger Bildband mit vielen erläuternden Texten, sowieso genial. Die Photographen, Marie-Luce Hubert und Jean-Louis Klein, haben fünf Jahre lang wildlebende Mustangs in den USA begleitet. Da finden sogar die, die neben dem Reiten und/oder Pferdelieben jede Ausgabe vom „Reiter St. Georg“ oder der „Reiter Revue“ auswendig lernen, noch Neues, und angesichts mancher Bilder können sie wieder mit den Fingern darüberstreichen und Loblieder auf Pferde singen.

Wem aber Pferde gar nichts sagen, wer aber weiß, dass es tausende von Rassen gibt, mit denen man eine bessere Beziehung aufbauen kann als zu dieser dummen, dummen Spezies, nun ja, selbst dem sei dieses Buch ans Herz gelegt! (Mögliche Zielgruppen: Betroffene Familienangehörige oder Freunde von Pferdenarren, Tierfreunde, Biologen) Es bietet die Chance, eine echte Annäherung ans Pferd als jahrtausendealtes Wildtier zu finden, wo wie das aus Büchern etwa über Wölfe bekannt ist. Die Mustangs in den USA sind freilebende, urwüchsige Zeitgenossen, Tiere mit einem spannenden und ausgeprägten Sozialverhalten. Die Bilder zeigen sie in grandioser Landschaft, mit Aufnahmen voller Bewegung und starker Gebärden. Sie zerreißen einem das freiheitliche Herz; und ganz nah fühlt man sich dem Pferd. Es ist nicht das dem ästhetischen Bedürfnis des Menschen angepasste Tier, hier sieht man Wunden, Narben, Fellverfärbungen, Abstoßendes. Aber weil man das Verhalten neu verstehen lernt, kapiert man, wie viel Ursprüngliches die Beziehung Mensch-Pferd hat. Diese eingeflochtenen Gäulchen, von kerzengraden Klimkes dressiert, diese albernen Beinchenhebübungen, diese ganze deutsche Reitkunst, diese Lächerlichkeiten: Man merkt plötzlich, dass sie auch auf Natürliches rekurrieren, dass das Pferd zur Domestizierung geeignet war als Helfer und Partner. Aufpassen, dass nicht noch Verständnis für den Pferdesport aufkommt!

Ein wahnsinnstolles Pferdebuch.

 

Marie-Luce Hubert und Jean-Louis Klein:

"Pferde in Freiheit"

Kosmos Verlag 2009

223 S., Euro 49,90

ISBN: 978-3440117880

 

Hoch

 

 

Geht das Risiko ein

Chaim Noll: "Der goldene Löffel"

Von Susan Müller

 

Chaim Noll ist ein Erzähler mit Mut. Er unterwirft sich keiner Strategie des "Leserfesselns", er fasst zusammen, was er zu sagen hat und tut's; jeder Absatz ein Abenteuer. Man lässt sich gern darauf ein.

Noll war einmal ein Kind in der DDR. Er kam 1954 in Ostberlin zur Welt. Die Bundesrepublik übertünchte die Nazi-Vergangenheit und wurde vom Wirtschaftswunder erfasst, die DDR fand ihre Identität in einem neuerlichen Unterdrückungsapparat und einer generalstabsmäßig vorgenommenen Bevorteilung der Regimetreuen. Was hüben ein Funktionär, war drüben einer, der sich finanziell bereichern konnte. Chaim Noll erzählt in "Der goldene Löffel" von der DDR und damit von den Funktionären. Siebziger Jahre, Funktionärssohn aus vergünstigter Situation mit vorgezeichneter Parteikarriere, ein Jüngling, der sich für Liebe, was sonst?,  interessiert. Unter den Rock der Violetta fassen, das reizt, der Rest ist egal. Mit der Zeit aber kommen ein paar Fragen dazu, er sucht nach Antworten, die Künstlerfamilie, aus der seine Freundin stammt, bringt das Vorgefasste durcheinander.

Chaim Noll kann in diesem Spannungsfeld seine Romanfigur Adam durchleiden lassen, wie verschieden man auch in der DDR leben konnte. In einer „Parteifamilie“ mit Überzeugten groß zu werden, in der das Aushängeschild der Name des Vaters ist und dadurch manche Ungezogenheit verziehen wird, war etwas ganz anderes als, auf der anderen Seite, in einer Künstlerfamilie, aufzuwachsen.

Adam schwankt, fügen will er sich nirgends, er ist nur für sich selbst auf der Suche, nach seinem Platz im Leben und der wirklich wahren Liebe.

Er ist Kunststudent, die Partei sieht ihn als einen von ihnen an. Adam kommt nicht wirklich vorwärts und manche Gedanken, die ihm beim Malen kommen, beschreiben vielleicht seine gesamte Situation: „Was machen die da drüben anders als wir, dass ihre Pinsel richtige Pinsel sind, keine borstigen Unglücksfälle, dass ihre Farben sich mischen, ihre Scheren schneiden, ihre Klebstoffe kleben?“

Als ihm seine große Liebe begegnet -die zwar verheiratet ist, doch das nicht glücklich- geht er das Risiko ein, alles aufs Spiel zu setzen. Er wird des Studiums verwiesen und nimmt das Angebot nicht an, sich wegloben zu lassen. Er weiß, alles wird sich irgendwie lösen – auflösen, nur seine Liebe, die wird er festhalten. Adam hat nichts mehr übrig für den "goldenen Löffel im Mund", mit dem die einen geboren werden, die anderen nicht.

Es hatte etwas Hellsichtiges, Visionäres an sich, als Chaim Noll diesen Roman im September 1989 veröffentlichte. Er wurde nicht nur von der DDR als Staatsfeind behandelt, er war es wirklich. Die DDR bot von Beginn an keinen Raum für jüdisches Leben. Als Noll zur Nationalen Volksarmee sollte, verweigerte er den Wehrdienst. Diese Gewissensentscheidung wurde nicht geduldet, Noll kam in die Psychiatrie. 1983 durfte er nach West-Berlin ausreisen. Von dort zog er 1991 nach Rom und 1995 nach Israel.

Die Neuauflage des Romans bietet nun ganz neue Rezeptionsmöglichkeiten. Man kann ihn quasi in wiedergewonnener Ruhe lesen, kann ohne die Hitze der Gegenwart das Buch hinter dem Thema entdecken. Es ist ein düsteres Bild vom Totalitarismus, ein schönes Bild von der Liebe, ein sicheres und lesenswertes. 

 

Chaim Noll

„Der goldene Löffel“

Verbrecher Verlag 2009

246 S., Euro 13,00

ISBN: 978-3940426215

 

Hoch

 

 

Schwinden der Selbstbeherrschung

Michal Vieweghs untreue Klára

Von Susan Müller

 

Nur weil Denis Pravda ein guter Menschenkenner ist, lässt ihn das Gefühl nicht los, dass Norbert Černy mehr auf dem Herzen hat als einige Auskünfte über die Arbeit eines Detektivs. Dies ist nämlich nur ein Vorwand, eigentlich will Norbert seine 20 Jahre jüngere Freundin Klára beschatten lassen, denn er ist sehr, sehr, ja fast krankhaft eifersüchtig.

Dr. Pravda ist verheiratet, aber auch anderen Damen gegenüber nicht abgeneigt, was seine Frau allerdings toleriert. Die beiden führen das, was man eine offene Ehe nennt. Dem Leser wird glaubhaft vermittelt, dass Denis Pravda kein eifersüchtiger Ehetyrann ist (wie er sie als Klienten jeden Tag in der Kanzlei sitzen hat), denn auch seine Frau genießt die gleichen Freiheiten. Er beschattet zwar Mann und Frau, die es mit der Treue nicht genau nehmen, aber er selbst hat gelernt, dass man das dulden kann, wenn man Wirklich liebt.

Michal Viewegh überlässt es unserer Phantasie, warum die Pravdas so miteinander leben und harmonieren.

Denis übernimmt Klaras Beschattung, die ihm anfangs keine Beweise für Untreue liefert.

Norbert, der Klara heiraten und so ihrer absoluten Loyalität sicher sein möchte, gibt aber keine Ruhe. Er beordert Denis Pravda auch nachts an Klara dran zu bleiben, um sich dann wieder für seine übertriebenen Handlungen bei dieser und bei Denis zu entschuldigen.

Manchem Leser ist das Verhalten vielleicht nicht fremd, obwohl, derart ausgeschmückt, es uns eher ein Lächeln auf die Lippen zaubert oder wir mit dem Kopf schütteln. Fast ist die Sache ausgestanden, denn weder Pavel, der Studienfreund Kláras noch ein anderer der in Betracht kommenden Männer zieht Klaras Aufmerksamkeit auf sich, da wird Denis doch noch fündig. Er will Norbert nicht weh tun und sagt ihm nichts, so dass dieser scheinbar sein Misstrauen verliert.

Denis zum Dank und Klára als Entschuldigung schenkt er beiden eine Reise nach China. Bei dieser Gelegenheit könnte Denis ja die Augen noch ein wenig offen halten, hat er trotz allem noch im Hinterkopf.
Pravdas detektivische Spürnase lässt ihn im Stich, als er sich mit Klára einlässt. Scheinbar durchdacht sprechen sich die beiden vorher ab, welche Urlaubsdetails sie übereinstimmend bei Norberts Anrufen weitergeben. Ein fataler Fehler, denn als Denis bemerkt, dass Klára und ihm ein anderes Detektivpärchen auf den Fersen ist, ist es bereits zu spät....

Ein Meisterwerk zwischen Paranoia, die eben doch keine ist, und dem Schwinden der Selbstbeherrschung, wenn es um körperliche Gelüste geht, zwischen Gefälligkeits- oder Notlügen und dem Retten der eigenen Haut. Der Leser steht außerhalb von zwei sich parallel zutragenden und doch voneinander getrennten Geschehnissen, die er mit seiner eigenen Phantasie vervollständigen und ausschmücken kann.

 

Michal Viewegh:

Der Fall untreue Klára

Aus dem Tschechischen von Eva Profousova

Deuticke Verlag 2008

206 S., 19,90.-

ISBN: 978-3552060692

 

Hoch

 

 

Nie zu spät

Smaro Dessipris: "Weiße Schiffe meine Träume"

Von Susan Müller

 

Irene ist Taxifahrerin und das eigentlich gern, denn es lässt ihr die Möglichkeit weit ab von ihrer Familie Skizzen aus Servietten anzufertigen. Skizzen von Schiffen, immer aus einer anderen Motivation heraus gezeichnet. Sei es das Schicksal oder die Geschichte eines Fahrgastes oder eine Beschreibung dessen Gemütszustandes oder aber ihres eigenen. Das verschafft ihr einen kleinen Ausgleich zu ihrem familiären Umfeld, denn dort wird nur gefordert, ihr Mann nimmt ihre Bedürfnisse nicht ernst und sieht nur die finanziellen Vorteile und seine eigene kleine Welt, die seine Arbeit und seine Tochter beinhaltet.

Ihre Tochter Lena ist ein Kontrollmensch und erwartet Irenes ständige Bereitschaft, sei es um ihr Essen vorzubereiten, wenn diese es nicht schafft oder aus denselben Gründen ihre Wäsche zum Bügeln vorbei bringt oder aber einfach nur ihr Herz auszuschütten. Leider fehlt ihr die Gabe, das auf Gegenseitigkeit beruhen zu lassen. Irene wirkt in Lenas Augen andersartig und deren Ansichten entlocken ihr nur ein mitleidiges Lächeln. Irene leidet und erträgt still, bis sie eines Tages Alexander kennen lernt, der anfangs „nur“ einer ihrer Fahrgäste ist.

Doch sie begegnen sich wieder und Irene entdeckt sich und ihre Gefühle neu. Sie hinterläßt bei Alexander einen bleibenden Eindruck und bald treffen sich die beiden regelmäßig. Zwischen ihnen entsteht eine, nur ihnen vorbehaltene Beziehung, die Irene inner- und äußerlich aufblühen lässt. Dadurch ist der 12stunden Tag erträglicher, den ihr Mann jetzt von ihr verlangt, um Tochter und Schwiegersohn finanziell unterstützen zu können, da letzterer arbeitslos wurde. Nur kommt für ihn kein bescheidener selbstfinanzierter Neuanfang in Frage, sondern es muss vom besten sein, obgleich es noch keine Aussicht auf Erfolg gibt.
So ganz nebenbei muss Irene nun für Lena Seelentröster spielen, denn diese hat sich verliebt, nur leider in den falschen. Sie zeigt zwar, wie immer von Irene gewünscht, Gefühle, aber ihr Angebeteter benutzt sie nur für seine künstlerischen Zwecke und schreckt dabei vor nichts zurück.

Alexander hingegen trägt seine Traumfrau auf Händen und lässt nichts unversucht, ihr Freiraum zu verschaffen, wenn auch nicht ganz uneigennützig.

Er richtet ihr in seinem Haus ein Atelier ein und hat sie so oft an seiner Seite und beide können die Zweisamkeit genießen. „Ihr Körper hatte eine weitaus größere Intimität entwickelt, eine ungeschriebene Sprache voll einzigartiger Worte.“ Alexander ersetzt Irene auch den Verdienstausfall, der nicht stattgefundenen Taxifahrten. Ihre Skizzen haben ihn inspiriert, dieses Talent öffentlich zu zeigen. Er macht sie zur künstlerischen Heldin, er ermöglicht ihr eine eigne Ausstellung. Der damit verbundene Geldsegen und die öffentliche Anerkennung, lassen die Familie sich um 180° im Verhalten ihr gegenüber drehen. Was bisher belächelt wurde, sind jetzt die Werke einer Künstlerin. Jeder bemüht sich um sie, einschließlich ihrer Schwiegermutter, die bisher kein gutes Haar an ihr ließ. Alles könnte sich zum Besten wenden, bemerkten nicht Alexander und Irene auf dieser ganzen Erfolgslinie, dass sie nicht auf die Dauer füreinander bestimmt sind; das es für ein gemeinsames Leben einfach zu spät ist. Sie machen die schmerzliche Erfahrung, zur wahren Liebe gehört auch Verzicht und Schmerz. Doch Alexander verabschiedet sich einzigartig, er schenkt Irene ihr Elternhaus zurück, unter dessen Verlust sie sehr gelitten hatte. Ab sofort hat sie eine Oase, um sich zurückzuziehen und ihr Selbstwertgefühl muss nie mehr leiden. Es ist wie so oft zitiert „In einem Ende nistet oft ein Anfang“.

Ein berauschender Roman, der zu Herzen geht und uns vor Augen führt, was Liebe vermag. Wenn wir sie auch nicht für immer halten können, kehrt sie unser Inneres nach Außen, lässt uns an Aufgaben wachsen. Wie aus dem Leben gegriffen erfährt der Leser von Leid, Freude und einer späten Liebe, die alles bisherige auf den Kopf stellt. Sehr anschaulich und romantisch erfahren wir letzten Endes trotzdem: Für Liebe ist es nie zu spät. Unabhängig von Alter, Beruf und Status.

 

Smaro Dessipris:

Weiße Schiffe meine Träume

Aus dem Neu-Griechischen von Maria Sabbas-Scouras

Ant-Verlag 2007

348 S., Euro 16,90

ISBN-13: 978-3981098334

 

Hoch

 

 

Im selbstgeschaffenen Kreislauf

Marina Bolzli „Nachhernachher“

Von Susan Müller

 

Bisher ist dem gewöhnlichen Leser sicher eher die Kombination Vorher-Nachher bekannt, und das Nachher-Nachher doch eher nicht. Ungewöhnlich – wie das ganze Buch! In dem Roman der jungen Schweizer Autorin Marina Bolzli liegt das daran, dass die Romanfigur – eine Ich-Erzählerin, sich an nichts mehr, an kein Vorher erinnern möchte. Literarisch ein gewagtes und: gelingendes Vorgehen.

Versierte Leser vorausgesetzt! Denn das Vorher war eigentlich nicht schlecht. Die Erzählerin hatte einen Freund und eine Arbeit. Dem Freund ging sie auf den Wecker; zuviel redete sie ihm, er hielt es nicht mehr aus. Bei der Arbeit fehlte es dafür an Mitreißendem und ihr an Engagement.

Sie kauft Bücher, verkriecht sich mit ihnen, will sie anordnen, aber sie wird mit sich nicht einig, ob farblich oder inhaltlich oder einfach nach der Größe. Auch hiermit ist Marina Bolzli ganz nah an den großen literarischen Themen. Ihre Protagonistin ist kein oberflächliches Pop-Literatur-Produkt, sie plagt sich mit Unzufriedenheit und Selbstzweifeln. Es ist Naturell, dieses Nachhernachher.

Auch im Alltag: Nach dem Kaffee trinken, nach dem Lesen. Sie befindet sich in einem selbstgeschaffenen Kreislauf, dem zu entkommen ihr nicht leicht fällt. Zu all dem spricht sie mit einer unsichtbaren dritten Person – ein Ansprechpartner auch im Buch.

Teilweise faszinierend verwirrend ist diese Prosa der Marina Bolzli. Denn ab und zu „überfährt“ sie den Leser in manchmal losen Sequenzen. Die sind dafür da, vom Leser selber und für sich zusammengebunden zu werden. So ersteht für jeden ein sehr persönliches Buch.

 

 Marina Bolzli:

„Nachhernachher“

Landverlag 2009

170 S., CHF 34,80

ISBN: 978-3033018143

 

Hoch

 

 

Wieder einmal die Macht der Gefühle

Eleni K. Tsmadou: "Ein Königreich für ein Grab. Das Schicksal des Goten"

Von Susan Müller

 

Wird man nach dem Inhalt dieses Buches gefragt, kann man durchaus mehrere Antworten geben und liegt nicht falsch, man kann sagen, es geht um Griechen, Römer, Geschichtliches, um Krieg und auch um Träume und Wünsche.

Eigentlich sollte Mego, unsere Romanhauptperson, einer griechischen Priesterin dienen, und das noch ein ganzes Jahr - als sie auf ihre große Liebe trifft. Und weil selbst weit vor unserer Zeit im alten Griechenland die Liebe ihre eigenen Gesetze hatte, folgt sie noch vor Ablauf diesen Jahres ihrem Herzen und vermählt sich mit Aristophron, und bald krönt ein Sohn diese tiefe Verbindung. Die Enttäuschung von Megos Familie über ihre Treulosigkeit sitzt tief, und die beiden gehen fort. In dieser Zeit kommt es immer wieder zu Angriffen durch die Goten, so dass Mego und ihr Mann ihren Sohn bei einer alten Frau zurücklassen, um sich selbst erst einmal in Sicherheit zu bringen und ihn später nachzuholen. Dem Leser stockt der Atem, als er lesen muss, dass es den beiden nicht gelingt, mit heiler Haut davonzukommen, sondern Megos geliebter Ehemann durch die Goten getötet und sie selbst von ihnen verschleppt wird, es beginnt eine für sie schreckliche Zeit, die ihr zukunfts- und sinnlos erscheint. Ihren Sohn hat sie dadurch ja ebenfalls verloren, denn wie sich denken lässt, erfuhr man damals nicht so einfach etwas über das Schicksal eines anderen, und sie wollte ihn auch nicht erst an die Goten verraten. Die Hoffnung, dass er lebte, hegte sie allerdings über lange Zeit.

Alarich, einer der anführenden Goten, ist um Mego sehr bemüht, und wieder einmal ist es die Macht der Gefühle und nicht des Verstandes, dass Mego auch ihm mit der Zeit wohlgesonnen ist. Seine zufälligen Berührungen lassen sie nicht mehr vor Ekel erschaudern, sondern vor Wonne und Lust. Es kommt der Tag, an dem sie das Bett mit ihm teilt und seine Mätresse wird. Er selbst ist verheiratet, da ihm seine Frau aber keine Kinder gebären kann, leben sie getrennt voneinander und er darf sich anderweitig um Nachwuchs bemühen. Wir lernen aus diesem Buch, dass bestimmte Verhaltensweisen geduldet und sogar legitim waren. Trotz allem wird diese Beziehung nicht von allen gebilligt, denn sie ist eine Ethnikerin, er Gote und damit Christ. Selbst als Alarich von Mego verlangt, Christin zu werden, will sie davon nichts wissen. Sie gebiert ihm einen gesunden Sohn, lehnt ihn aber für sich als Kind des Barbaren, der schuld an ihrer Misere ist, ab. Als sie beginnt, dieses Kind zu lieben, wird es  ihr durch den Tod genommen. Ein weiterer herber Verlust für Mego, der auch nicht mit der Geburt eines weiteren Kindes wett gemacht werden kann, denn diese Entbindung steht unter einem anderen, nicht wirklich besseren Stern. Denn Mego und Alarichs Tochter muss vor den Füßen von Alarichs Frau zur Welt kommen, dann kann er diese als legitime Nachkomme anerkennen. Es interessiert dabei Megos Schmerz niemanden, den sie empfindet, weil Tochter Hilde bei Alarichs Frau groß gezogen wird. Sie ist schließlich als Mätresse ohne Anspruch und so ist ihr Kind wenigstens anerkannt. Ihr einziger Trost ist Alarichs Liebe, die er ihr immer wieder zeigt, auch wenn sie nach wie vor anderen ein Dorn im Auge ist. Sie erleidet eine Fehlgeburt, aber wird erneut schwanger. Doch bevor sie diese Nachricht Alarich, der inzwischen König der Goten ist,  mitteilen kann, ist sie bereits in der Gefangenschaft der Römer als Folge eines erfolglosen Versuches des Goten, endlich einen Platz für sein Volk zu finden, an dem es sich niederlassen kann.

Mego wird von ihrem Bruder erkannt, der sie aus der Reihe der Gefangenen befreien kann und versteckt. Dieses Los bringt sie wieder mit ihrem Erstgeborenen zusammen. Von nun an wird der Leser Zeuge einer hart kämpfenden Mego, um das Leben ihrer Kinder und um das Wiederfinden ihres geliebten Mannes, von dem sie weiß, dass er nicht nur Barbar ist, sondern lediglich nach einem Platz für sein Volk sucht und dies wohl mit Worten und Ersuchen probiert, aber er auch König ist, dessen Krieger und Untertanen unruhig werden. 

Es ist ein unendlich langer Weg, denn Kommunikation erfolgt in der Spätantike nur schriftlich oder persönlich, bis zumindest Megos erster Sohn auf Alarich trifft und ihn schätzen lernt. Beide versuchen Mego zu befreien, aber wie und ob das gelingt, davon darf der Leser am Ende nur ausgehen.

Es spielen noch sehr viele Intrigen und Machtkämpfe und vor allem gewissenlose Verräter eine Rolle, deren Namen ich aber nicht alle einzeln aufführen wollte, aber die, wie ich finde, wunderbar in einer kurzen Liste erklärt werden, und Eleni K. Tsamadou versäumt es auch nicht, uns über gebräuchliche Ausdrücke der damaligen Zeit aufzuklären. Ich wollte nur damit nicht jonglieren, da es keine alltäglichen Namen sind, aber das sollte nicht abschrecken, sich in dieses Buch zu vertiefen, denn während des Lesens werden sie einem geläufig, und  es lohnt sich, sich damit auseinander zu setzen. Es ist ein ergreifendes Buch über die Macht der Gefühle, aber auch darüber, wie viele Menschenleben sinnlose Kämpfe um Besitz und Ansehen gekostet haben. Allerdings wird uns klar geschildert, dass oft Dummheit und falscher Stolz schuld waren und die „kleinen Leute“, sprich das Volk, die Konsequenzen alberner Machtspiele zu tragen hatten, während der König der Goten unverstanden nur seinem Volk ein zu Hause bieten wollte, er aber nicht ohne Krieg auskommen konnte.

Eine wunderbare geschichtliche Inszenierung der Verhältnisse in der Spätantike und dem Kampf um Geborgenheit und Liebe. Nicht kurz, aber lesenswert.

 

Eleni K. Tsamadou:

Ein Königreich für ein Grab

Aus dem Neu-Griechischen von Maria Sabbas-Scouras

Ant-Verlag 2007

440 S., 18,90.-

ISBN 978-3981098358

 

Hoch

 

     
 

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